»Kopf hoch«, meinte Wimsey. »Ich mache dir keinen Vorwurf. Außerdem kommt dadurch ein bißchen Leben in die Jagd.«
»Es ist nur so«, warf der Ehrenwerte Freddy ein, »daß wir bei ehrbaren Untersuchungsrichtern nicht beliebt sind. Überspannte Aristokraten und unmoralische Franzosen! Übrigens schade, Peter, daß dir Miss Lydia Cathcart entgangen ist. Die hätte dir gefallen. Sie ist wieder nach Golders Green zurück und hat die Leiche mitgenommen.«
»Na ja«, meinte Wimsey. »An der Leiche wird wohl nichts Ungewöhnliches drangewesen sein.«
»Nein«, sagte Parker, »das ärztliche Gutachten war soweit in Ordnung. Lungendurchschuß, sonst nichts.«
»Allerdings«, sagte der Ehrenwerte Freddy, »selbst erschossen hat er sich nicht. Ich hab ja nichts davon gesagt, um dem alten Denver seine Geschichte nicht kaputtzumachen, aber daß er so aufgebracht und sauer gewesen sein soll, das war Käse.«
»Woher weißt du das?« fragte Peter.
»Na hör mal. Cathcart und ich sind noch zusammen nach oben gegangen. Ich war ziemlich sauer, weil ein paar Aktien von mir sehr gefallen waren; außerdem hatte ich am Morgen immer danebengeschossen und dann noch eine Wette mit dem Oberst verloren, wie viele Zehen die Hauskatze hat; und wie ich nun zu Cathcart etwas von blöder Welt oder so sage, da meint er: >Im Gegenteil, die Welt ist wunderschön. Morgen lege ich mit Mary den Hochzeitstermin fest, und dann ziehen wir nach Paris, wo man noch etwas von der Liebe versteht« Ich hab daraufhin nur was Ausweichendes geantwortet, und er ist pfeifend weitergegangen.«
Parker machte eine ernste Miene. Oberst Marchbanks räusperte sich.
»Nun«, meinte er, »bei einem Mann wie Cathcart weiß man nie, wie man dran ist. In Frankreich aufgewachsen, Sie wissen ja. Das ist nicht wie bei einem aufrechten Engländer. Immer rauf und runter, rauf und runter! Traurige Sache, armer Kerl! Na ja, Peter, ich hoffe, Sie und Mr. Parker werden schon noch etwas finden. Es geht doch nicht, daß der arme Denver einfach so im Kittchen sitzt. Furchtbar unangenehm, armer Kerl, und wo dieses Jahr die Vögel so gut sind! Also, Sie werden sich jetzt sicher überall umschauen wollen, Mr. Parker, nicht? Freddy, wie wär's mit einer Partie Billard?«
»Recht haben Sie«, meinte der Ehrenwerte Freddy, »aber Sie müssen mir hundert vorgeben, Oberst.«
»Unsinn, Unsinn«, erwiderte der Veteran gutgelaunt. »Sie spielen doch ausgezeichnet.«
Nachdem auch Mr. Murbles sich zurückgezogen hatte, saßen Wimsey und Parker einander allein am abgegessenen Frühstückstisch gegenüber.
»Peter«, sagte der Kriminalbeamte, »ich weiß nicht, ob es richtig von mir war, hierherzukommen. Wenn du meinst -«
»Hör mal her, alter Freund«, unterbrach ihn Wimsey ernst, »wir wollen hier alle Fragen des Zartgefühls beiseite lassen. Wir bearbeiten diesen Fall wie jeden anderen. Und wenn dabei etwas Unerfreuliches ans Tageslicht kommt, sollst lieber du es zu sehen bekommen als irgendwer sonst. Übrigens ein ganz besonders hübscher Fall, auf seine Art, und ich gedenke mein Bestes zu tun.«
»Also, wenn du wirklich meinst -«
»Lieber Charles, wenn du nicht schon hier wärst, würde ich dich rufen. Und jetzt an die Arbeit. Ich gehe natürlich davon aus, daß Gerald es nicht war.«
»Davon bin ich ebenso fest überzeugt«, pflichtete Parker ihm bei.
»Nicht doch, nicht doch«, widersprach Wimsey, »das ist nicht deine Art. Nie überstürzt - nie vertrauensselig. Deine Aufgabe ist es, meine Hoffnungen mit kaltem Wasser zu übergießen und alle meine Schlüsse anzuzweifeln.«
»Abgemacht!« sagte Parker. »Wo möchtest du anfangen?«
Peter überlegte. »Ich denke, wir gehen von Cathcarts Zimmer aus«, meinte er.
Das Zimmer war von bescheidener Größe und hatte nur ein Fenster über der Haupteingangstür. Das Bett stand rechts, die Kommode vor dem Fenster. Links war der Kamin mit einem Sessel davor, dazu ein kleiner Schreibtisch.
»Alles noch so, wie es war«, sagte Parker. »Soviel Verstand hatte Craikes wenigstens.«
»Ja«, sagte Lord Peter. »Also gut. Gerald hat gesagt, Cathcart sei aufgesprungen, als er ihn einen Lumpen nannte, wobei er fast den Tisch umgeworfen habe. Das muß der Schreibtisch gewesen sein, also hat Cathcart im Sessel gesessen. Ja, hat er - und dann hat er ihn so heftig zurückgestoßen, daß er den Teppich dabei verschoben hat. Hier kannst du's sehen! Soweit, so gut. Nun, und was hat er am Schreibtisch gemacht? Gelesen hat er nicht, sonst müßte hier ein Buch herumliegen, denn wir wissen ja, daß er hinausgerannt und nicht mehr wiedergekommen ist. Hat er geschrieben? Nein, das Löschblatt ist jungfräulich -«
»Er könnte mit Bleistift geschrieben haben«, warf Parker ein.
»Stimmt auch wieder, alter Spaßverderber. Gut, aber dann muß er das Blatt in die Tasche gesteckt haben, als Gerald hereinkam, denn hier liegt es nicht; das hat er aber auch nicht, denn bei seiner Leiche wurde es nicht gefunden; folglich hat er nicht geschrieben.«
»Oder er hat das Blatt woanders weggeworfen«, sagte Parker. »Ich habe nämlich noch nicht das ganze Gelände abgesucht, und selbst wenn wir ganz knapp rechnen - indem wir nämlich davon ausgehen, daß der Schuß, den Hardraw um zehn vor zwölf gehört hat, der Schuß war -, haben wir eineinhalb Stunden, über die wir nichts wissen.«
»Nun gut. Sagen wir also, nichts weist hier darauf hin, daß er geschrieben hat. Recht so? Gut, dann -«
Lord Peter nahm eine Lupe aus der Tasche und untersuchte sorgfältig die ganze Sitzfläche des Sessels, bevor er sich hinsetzte.
»Hier ist auch nichts, was uns weiterhilft«, sagte er. »Um weiterzukommen: Cathcart hat also hier gesessen, wo ich jetzt sitze. Geschrieben hat er nicht; er - sag mal, bist du sicher, daß in dem Zimmer nichts angerührt wurde?«
»Ganz sicher.«
»Dann hat er auch nicht geraucht.«
»Wieso nicht? Er könnte den Zigarren- oder Zigarettenstummel ins Feuer geworfen haben, als Denver hereinkam.«
»Keine Zigarette«, sagte Peter, »sonst müßten wir irgendwo Spuren finden - auf dem Fußboden oder im Kamin. Diese leichte Asche fliegt ja nur so herum. Aber eine Zigarre - ja, die könnte er vielleicht geraucht haben, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich will's aber nicht hoffen.«
»Wieso?«
»Weil ich es lieber sähe, wenn Geralds Behauptungen einen kleinen Wahrheitsgehalt hätten. Ein aufgeregter Mensch setzt sich nicht gemütlich hin, um vor dem Zubettgehen noch eine Zigarre zu genießen, und geht dabei auch noch so liebevoll sorgsam mit der Asche um. Wenn andrerseits aber Freddy recht hat und Cathcart ausgesprochen gutgelaunt und mit sich und der Welt zufrieden war, hat er wahrscheinlich genau das getan.«
»Glaubst du etwa, daß Mr. Arbuthnot das alles erfunden hat?« fragte Parker nachdenklich. »Den Eindruck macht er eigentlich nicht auf mich. Um so etwas zu erfinden, brauchte er eine gehörige Portion Phantasie und Bosheit, und beides traue ich ihm nicht zu.«
»Ich weiß«, sagte Lord Peter. »Ich kenne Freddy mein Leben lang und weiß, daß er keiner Fliege was zuleide tun könnte. Außerdem hat er gar nicht soviel Grips, um sich jemals etwas auszudenken. Mich beunruhigt nur, daß Gerald eben auch nicht den Grips hat, um diese Komödie zwischen ihm und Cathcart zu erfinden.«
»Andrerseits«, wandte Parker ein, »wenn wir für einen Augenblick unterstellen, daß er Cathcart doch erschossen hat, wäre das ein starker Ansporn für ihn gewesen, sie zu erfinden. Er würde alles daransetzen, seinen Kopf aus der - ich meine, wenn etwas Wichtiges auf dem Spiel steht, kann man sich oft nur wundern, wie sehr das die Sinne schärft. Und daß die Geschichte so weit hergeholt ist, spricht für einen ungeübten Märchenerzähler.«
»Wie wahr, mein König! Nun, bisher hast du mir einen Strich durch alle meine Erkenntnisse gemacht. Tut aber nichts. Mein Haupt ist blutig, doch ungebeugt. Cathcart hat also hier gesessen -«