»Bei der Gelegenheit«, erwiderte Parker, »kann ich dir ja endlich von dem unterhaltsamen >Klatsch< berichten, den ich mit Mrs. Hardraw hatte.«
»Hoppla!« meinte Wimsey, nachdem er sich das angehört hatte. »Das ist ja interessant. Wir sollten uns mal in Riddlesdale und King's Fenton erkundigen. Inzwischen wissen wir also, woher Schuhgröße 45 gekommen ist; aber wohin ist er verschwunden, nachdem er Cathcarts Leiche neben dem Brunnen abgelegt hatte?«
»Die Spur führt in die Schonung«, sagte Parker. »Dort habe ich sie verloren. Totes Laub und Unterholz bilden einen dicken Teppich.«
»Aber wir müssen dort nicht wieder mit der Nase am Boden herumschnüffeln«, begehrte sein Freund auf. »Wenn der Kerl in die Schonung hineingegangen ist, muß er, da er vermutlich nicht mehr drin ist, auch wieder herausgekommen sein. Durchs Tor kann er nicht gegangen sein, sonst hätte Hardraw ihn gesehen; er ist auch nicht auf demselben Weg wieder herausgekommen, auf dem er hineingegangen ist, sonst hätte er entsprechende Spuren hinterlassen. Demnach ist er woanders herausgekommen. Gehen wir mal um den Zaun herum.«
»Dann sollten wir uns nach links wenden«, meinte Parker, »denn da ist die Schonung, durch die er ja offenbar gelaufen ist.«
»Wahr, o König! Und da dies keine Kirche ist, kann es auch nicht schaden, gegen den Uhrzeigersinn herumzugehen. Apropos Kirche - eben kommt Helen zurück. Geh mal einen Schritt schneller, altes Haus.«
Sie überquerten die Einfahrt, gingen am Häuschen des Wildhüters vorbei und verließen die Straße, um über offene Wiesen dem Zaun zu folgen. Schon bald fanden sie, was sie suchten. An einer der Eisenspitzen über ihnen baumelte ein einsames Stück Stoff. Wimsey kletterte, gestützt von Parker, in geradezu lyrischer Begeisterung hinauf.
»Da haben wir's!« rief er. »Den Gürtel eines Regenmantels. Hier hat er alle Vorsicht fahrenlassen. Dies sind die Spuren eines Mannes, der um sein Leben rennt. Er hat sich den Mantel heruntergerissen und ist - einmal, zweimal, dreimal -verzweifelt am Zaun hochgesprungen. Beim dritten Anlauf hat er den Mantel an den Spitzen festgehakt. Dann ist er hinaufgeklettert und hat uns die schönsten Kratzspuren am Holz hinterlassen. Jetzt ist er oben. Ah, hier ist Blut in eine Ritze gelaufen. Er hat sich die Hand verletzt. Dann springt er hinunter, reißt den Mantel nach und läßt den Gürtel hängen -«
»Spring du endlich auch runter«, knurrte Parker. »Du brichst mir das Schlüsselbein.«
Lord Peter sprang gehorsam hinunter, dann stand er, den Gürtel in der Hand, da und ließ den Blick seiner schmalen grauen Augen rastlos über die Wiesen schweifen. Plötzlich packte er Parkers Arm und ging raschen Schrittes auf einen Steinwall auf der anderen Seite der Wiese zu - ein niedriges Bauwerk lose aufgeschichteter Steine, wie sie für die Gegend typisch sind. Darauf lief er entlang wie ein Terrier, die Nase vorneweg, die Zungenspitze albern zwischen den Zähnen, sprang schließlich hinüber, drehte sich zu Parker um und meinte:
»Hast du mal Des letzten Minnesängers Sang gelesen?«
»Von Scott? In der Schule hab ich viel davon gehört«, sagte Parker. »Warum?«
»Weil da so ein Knirps drin vorkommt, der im unpassendsten Moment schreit: >Gefunden! Gefunden!«« sagte Lord Peter. »Ich habe ihn immer als furchtbar aufdringlich empfunden, aber jetzt weiß ich, was in ihm vorging. Sieh dir das mal an.«
Dicht unterhalb des Steinwalls wies der schmale, lehmige Weg, der hier rechtwinklig zur Straße verlief, die tief eingedrückten Spuren eines Motorrads mit Beiwagen auf.
»Und wie hübsch«, sagte Mr. Parker beifällig. »Neuer Dunlopreifen auf dem Vorderrad, alter Reifen auf dem Hinterrad, geflickter Reifen am Beiwagen. Was wollen wir mehr? Die Spur kommt von der Straße und kehrt wieder zur Straße zurück. Der Bursche hat sein Motorrad von der Straße hierhergeschoben, damit nicht irgendein vorbeikommender Naseweis damit verschwand oder sich die Nummer merkte. Dann ist er auf Schusters Rappen zu der Stelle am Zaun gegangen, die er zuvor am Tag erkundet hatte, und ist hinübergestiegen. Nach der Geschichte mit Cathcart hat er's mit der Angst bekommen, ist durch die Schonung gerannt und hat ohne Rücksicht auf Verluste den kürzesten Weg zu seinem fahrbaren Untersatz genommen. Na bitte.«
Er setzte sich auf den Steinwall, zog sein Notizbuch aus der Tasche und fertigte nach den ihm bekannten Daten eine Beschreibung des Mannes an.
»Allmählich sieht's ein bißchen besser für den guten Jerry aus«, meinte Lord Peter. Er lehnte sich an die Mauer und pfiff leise, aber gekonnt, die kunstvolle Passage von Bach, die mit den Worten beginnt: »Laß Zions Kinder«.
»Ich möchte nur wissen«, sagte der Ehrenwerte Freddy Arbuthnot, »welcher von allen guten Geistern verlassene Trottel den Sonntagnachmittag erfunden hat.«
Er schaufelte mit rücksichtslosem Gepolter Kohlen auf das Kaminfeuer im Arbeitszimmer und weckte damit Oberst Marchbanks auf, der »Wie? Ja, ganz recht!« murmelte und prompt wieder einschlief.
»Du brauchst dich gar nicht zu beklagen, Freddy«, sagte Lord Peter, der seit einiger Zeit dabei war, mit nervtötender Gründlichkeit sämtliche Schreibtischschubladen zu öffnen und an der Verriegelung der Verandatür herumzuspielen. »Denk mal an Jerry, wie der sich erst langweilen muß. Ich sollte ihm vielleicht ein paar Zeilen schreiben.«
Er ging zum Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier. »Weißt du zufällig, ob hier oft jemand Briefe schreibt?«
»Keine Ahnung«, antwortete der Ehrenwerte Freddy. »Schreib selber nie welche. Wozu schreiben, wenn man telegrafieren kann? Dann schreiben die Leute doch nur zurück. Ich glaube, wenn Denver schreibt, schreibt er hier, und neulich habe ich auch den Oberst mit Feder und Tinte sich abquälen sehen, stimmt's, Oberst?« (Der Oberst reagierte mit einem Grunzen auf die Erwähnung seines Namens, ganz wie ein Hund, der im Schlaf mit dem Schwanz wedelt.) »Was ist denn? Keine Tinte da?«
»War nur mal eine Frage«, antwortete Peter gelassen. Er schob ein Papiermesser unter das oberste Löschblatt der Schreibunterlage und hielt dieses gegens Licht. »Ganz recht, altes Haus. Ich muß deine Beobachtungsgabe loben. Das hier ist Jerrys Unterschrift, die andere da ist vom Oberst, und dann haben wir noch eine große, schwungvolle Schrift, die ich für weiblich halten würde.«
Er betrachtete noch einmal das Löschblatt, schüttelte den Kopf, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche. »Scheint nichts weiter drauf zu sein«, meinte er, »aber man weiß ja nie. >Fünf irgendwas ... schöne irgendwas< - werden wohl Waldhühner sein. >- oe - is - f. u -< vielleicht >ist fruchtlos< oder so ähnlich. Na ja, kann nicht schaden, das Ding mal aufzuheben.«
Dann glättete er sein Briefpapier und begann:
»Lieber Jerry,
da bin ich, der Spürhund der Familie in Aktion, und es ist mächtig aufregend -«
Der Oberst schnarchte.
Sonntag nachmittag. Parker war mit dem Wagen nach King's Fenton gefahren mit dem Auftrag, unterwegs in Riddlesdale anzuhalten, um sich nach einer grünäugigen Katze sowie einem jungen Mann mit Beiwagen zu erkundigen. Die Herzogin hatte sich ein wenig hingelegt. Mrs. Pettigrew-Robinson hatte ihren Mann auf eine Wanderung entführt. Irgendwo im Obergeschoß erfreute sich Mrs. Marchbanks der vollkommenen Geistesgemeinschaft mit ihrem Gatten.
Lord Peters Feder kratzte leise übers Papier, hielt inne, kratzte weiter, hörte ganz auf. Er stützte das lange Kinn auf die Hände und starrte aus dem Fenster, an dessen Scheiben plötzliche kleine Regenschauer prasselten oder dann und wann ein totes Blatt vorbeiwehte. Der Oberst schnarchte; das Feuer knisterte; der Ehrenwerte Freddy begann vor sich hin zu summen und auf der Armlehne seines Sessels den Takt zu klopfen. Die Uhr rückte träge auf fünf. Das bedeutete Teezeit und brachte die Herzogin auf den Plan.
»Wie geht es Mary?« fragte Lord Peter, indem er plötzlich in den Feuerschein trat.