Peters eigener Eindruck von sich selber war, daß er eine Minute lang glotzte »wie ein abgestochenes Schwein«. In Wahrheit aber wußte er, daß er sich nach einem Sekundenbruchteil wieder gefangen hatte. Er ließ das Laken in die Truhe fallen und stand auf.
»Nanu, Polly, altes Mädchen«, sagte er, »wo hast du dich denn die ganze Zeit versteckt gehalten? Seh dich zum erstenmal. Du machst ja wohl ziemlich schlechte Zeiten durch.«
Er legte den Arm um sie und fühlte, wie sie zusammenzuckte.
»Was hast du denn?« fragte er. »Was ist los, Schwesterchen? Schau mal, Mary, wir haben ja bisher wenig voneinander gesehen, aber ich bin immerhin dein Bruder. Hast du Kummer? Kann ich dir nicht -«
»Kummer?« sagte sie. »Peter, dummer Kerl, ich soll wohl keinen Kummer haben? Hast du noch nicht gehört, daß man meinen Verlobten umgebracht und meinen Bruder ins Gefängnis geworfen hat? Ist das nicht Kummer genug?« Sie lachte, und Peter dachte plötzlich: Sie redet wie in einem Kitschroman. Jetzt sprach sie aber in normalerem Ton weiter. »Ist ja schon gut, Peter. Wirklich - aber mir tut der Kopf so weh. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tue. Was suchst du da eigentlich? Du hast solchen Lärm gemacht, da bin ich herausgekommen. Ich hatte geglaubt, da sei eine Tür zugeschlagen.«
»Du kriechst mal besser wieder unter die Decke«, sagte Lord Peter. »Sonst erkältest du dich noch. Warum müssen Frauen in diesem kalten Klima immer so spinnwebendünne Pyjamas tragen? Nun laß den Kopf nicht hängen. Ich schaue später mal rein, und dann halten wir beide ein gemütliches Schwätzchen, j a?«
»Heute nicht - bitte nicht heute, Peter. Ich werde noch verrückt.« (Wieder Kitschroman, dachte Peter.) »Machen sie Gerald heute den Prozeß?«
»Einen Prozeß nicht direkt«, antwortete Peter, indem er sie sanft zu ihrem Zimmer schob. »Reine Formsache, verstehst du? So ein alter Friedensrichter hört sich die Klageschrift an, dann tritt Murbles auf und sagt, er möchte, bitte sehr, zur Sache nicht Stellung nehmen, da er den Verteidiger informieren muß. Das ist nämlich Biggy. Dann hören sie sich die Haftverfügung an, und Murbles sagt, daß Gerald sich seine Verteidigung vorbehält. Das ist alles bis zum Schwurgerichtsprozeß - alles nur Gewäsch. Der Prozeß dürfte Anfang nächsten Monats stattfinden. Bis dahin mußt du wieder obenauf sein.«
Mary schauderte.
»N-nein! Könnte ich davon nicht verschont bleiben? Ich kann das nicht noch einmal durchmachen. Ich würde krank. Ich fühle mich entsetzlich elend. Nein, komm nicht herein. Ich will nicht. Läute nach Ellen. Nein, laß mich; geh weg. Ich will dich nicht, Peter!«
Peter zögerte leicht erschrocken.
»Besser nicht, Mylord, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten«, hörte er Bunters Stimme an seinem Ohr. »Das gäbe nur einen hysterischen Anfall«, fuhr er fort, während er seinen Gebieter sanft von der Tür wegführte. »Eine Qual für beide Beteiligten und vom Ergebnis her völlig unproduktiv. Warten wir lieber auf die Rückkehr Ihrer Gnaden, der Herzogin.«
»Völlig richtig«, sagte Peter. Er drehte sich um und wollte seine Sachen nehmen, aber Bunter kam ihm geschickt zuvor. Noch einmal hob er den Deckel hoch und sah in die Truhe.
»Was sagten Sie noch, was Sie an diesem Rock gefunden haben, Bunter?«
»Kies, Mylord, und Silbersand.«
»Silbersand.«
Hinter Riddlesdale Lodge streckte sich endlos das dunkle Moor aufwärts. Das Heidekraut war braun und naß, und die kleinen Bäche dazwischen hatten keine Farbe. Es war sechs Uhr, aber einen Sonnenuntergang gab es nicht. Den ganzen Tag war nur ein blasser Schimmer hinter einem bedeckten Himmel langsam von Osten nach Westen gewandert. Lord Peter, der nach langer, fruchtloser Jagd nach Informationen über den Mann mit dem Motorrad heimwärts wanderte, gab dem dumpfen Leiden seines Herdentriebs lauten Ausdruck. »Wäre Parker nur hier«, maulte er und stapfte weiter den sumpfigen Viehpfad hinunter.
Sein Ziel war nicht direkt das Jagdhaus, sondern ein Gehöft namens Grider's Hole, das rund zweieinhalb Meilen davon entfernt lag. Es befand sich fast genau nördlich von Riddlesdale, ein einsamer Vorposten am Rande des Moors in einem fruchtbaren Tal zwischen zwei ausgedehnten Moorhügeln. Der Pfad wand sich von Whemmeling Fell, so hieß die Höhe, hinunter, führte um einen tückischen Sumpf herum und überquerte etwa eine halbe Meile vor dem Gehöft das Bächlein Ridd. Peter hatte kaum Hoffnung, in Grider's Hole etwas Neues zu erfahren, aber er war nun einmal grimmig entschlossen, wirklich jeden Stein umzudrehen. Insgeheim war er überzeugt, daß der Mann mit dem Motorrad, Parkers Ermittlungen zum Trotz, über die Landstraße gekommen und vielleicht direkt durch King's Fenton gefahren war, ohne anzuhalten oder sonstwie Aufmerksamkeit zu erregen. Doch er hatte versprochen, die Nachbarschaft zu durchkämmen, und Grider's Hole lag in der Nachbarschaft. Er blieb kurz stehen, um seine ausgegangene Pfeife wieder anzuzünden, dann stapfte er unbeirrt weiter. Der Weg war in regelmäßigen Abständen zuerst mit kräftigen weißen Pfosten markiert, später mit Hürden eingezäunt. Den Grund dafür verstand man sofort, wenn man ins Tal kam, denn nur ein paar Meter links vom Weg begannen die vereinzelten Büschel groben, schilfigen Grases zwischen schwabbeligem schwarzem Moor, das alles, was schwerer war als eine Bachstelze, im Nu inmitten blubbernder Bläschen verschluckte. Wimsey bückte sich nach einer leeren Sardinenbüchse, die furchtbar verbeult zu seinen Füßen lag, und schleuderte sie achtlos in den Sumpf. Sie schlug mit einem Geräusch, das einem feuchten Kuß ähnelte, auf der Oberfläche auf und war im nächsten Augenblick verschwunden. Jenem Instinkt folgend, der einen immer, wenn man gedrückter Stimmung ist, in trüben Gedanken schwelgen läßt, lehnte Peter sich traurig an eine Hürde und ergab sich schwermütigen Betrachtungen über 1. die Eitelkeit menschlichen Strebens; 2. die Unbeständigkeit allen Seins; 3. die erste Liebe; 4. den Verfall der Ideale; 5. die Nachwehen des Weltkriegs; 6. Geburtenkontrolle und 7. den Trug des freien Willens. Damit war jedoch sein Nadir erreicht. Er merkte, daß seine Füße immer kälter wurden und sein Magen immer leerer, und da er noch ein paar Meilen vor sich hatte, überquerte er den Bach auf ein paar schlüpfrigen Steinen und näherte sich dem Tor zum Gehöft, das nicht aus den üblichen fünf Stangen bestand, sondern solide und wehrhaft gebaut war. Ein Mann stand daran gelehnt, einen Strohhalm im Mund. Er machte keine Anstalten, sich vom Fleck zu rühren, als Wimsey näher kam.
»Guten Abend«, sagte der Adelssproß munter und legte die Hand auf den Riegel. »Recht kühl, wie?«
Der Mann antwortete nicht, sondern lehnte sich noch schwerer ans Tor und atmete vor sich hin. Er trug einen Rock aus grobem Stoff und Breeches, und seine Gamaschen starrten von Kot.
»Natürlich der Jahreszeit angemessen«, sagte Peter. »Gut für die Schafe, nicht? Macht die Wolle schön kraus und so.«
Der Mann nahm den Strohhalm aus dem Mund und spuckte in die Richtung von Peters rechtem Stiefel.
»Gehen Ihnen viele Tiere im Moor verloren?« fuhr Peter fort, indem er wie unabsichtlich den Riegel löste und sich von der anderen Seite ans Tor lehnte. »Ich sehe, Sie haben eine feste Mauer ums Haus. Muß ein bißchen gefährlich sein hier im Dunkeln, wenn Sie etwa einen kleinen Abendspaziergang mit Ihrer Freundin machen wollen, wie?«
Der Mann spuckte wieder aus, zog seinen Hut in die Stirn und meinte kurz angebunden:
»Was woll'n Sie?«
»Och«, sagte Peter, »ich möchte nur Mr. - ich meine, dem Besitzer dieses Hofs einen kleinen Freundschaftsbesuch machen. So von Nachbar zu Nachbar. Einsame Gegend hier, nicht? Meinen Sie, ob er zu Hause ist?«
Der Mann grunzte.
»Freut mich zu hören«, sagte Peter. »Ich finde es immer wieder erfreulich, wie nett und gastfreundlich die Leute hier in Yorkshire alle sind. Egal wer kommt, ein Plätzchen am Feuer ist immer für ihn da. Entschuldigen Sie, aber Sie lehnen so am Tor, daß ich es nicht aufkriege. Nur aus Versehen natürlich, aber zufällig haben Sie da, wo Sie stehen, den längsten Hebel. Ein bezaubernd schönes Haus, nicht? So herrlich fest und trutzig und so weiter. Kein Efeu, keine Rosenbögen und derlei Spießerkram. Wer wohnt denn hier?«