Der Mann nahm die Karte entgegen und schlurfte ohne ein Wort des Abschieds zurück.
Lord Peter ging langsam, den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut über die Augen gezogen. Diese kinoreife Episode sperrte sich gegen seine Logik. Mit Mühe brachte er ein wenig Ordnung in seine Überlegungen.
»Erstens«, sagte er, »Mr. Grimethorpe. Ein Herr, der vor nichts zurückschreckt. Bärenstark. Unliebenswürdig. Ungastlich. Hervorstechendste Eigenschaft - Eifersucht auf seine erstaunlich hübsche Frau. War letzten Mittwoch und Donnerstag in Stapley, um Maschinen zu kaufen. (Hilfreicher Herr am Hoftor bestätigt das übrigens, so daß man es in diesem Stadium der Ermittlungen als brauchbares Alibi durchgehen lassen kann.) Hat darum unsern geheimnisvollen Freund mit dem Seitenwagengespann nicht gesehen, falls er da war. Ist aber geneigt, zu glauben, daß er da war, und zweifelt kaum am Grund seines Daseins. Was eine interessante Frage aufwirft. Wozu der Beiwagen? Ist doch lästig beim Fahren. Sehr gut. Aber wenn unser Freund wegen Mrs. G. hier war, hat er sie doch offenbar nicht mitgenommen. Wieder gut.
Zweitens, Mrs. Grimethorpe. Ein ganz besonderer Punkt, beim Zeus!« Er blieb meditierend stehen, um einen erregenden Augenblick zu rekonstruieren. »Geben wir unumwunden zu, daß Schuhgröße 45, wenn er ihretwegen gekommen war, jede Entschuldigung hat. Ja! Mrs. G. lebt in ständiger Todesangst vor ihrem Mann, der sich nichts dabei denkt, sie auf bloßen Verdacht hin niederzuschlagen. Ich wollte - aber ich hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Bei so einer Bestie von Mann tut man einer Frau den größten Gefallen, wenn man sich von ihr fernhält. Hoffentlich gibt das nicht eines Tages noch einen Mord. Einer genügt schon. Wo war ich stehengeblieben?
Aha, ja. Mrs. Grimethorpe weiß etwas - und kennt jemanden. Sie hat mich für jemanden gehalten, der allen Grund hatte, nicht nach Grider's Hole zu kommen. Wo mag sie nur gewesen sein, als ich mit Grimethorpe sprach? Im Zimmer nicht. Vielleicht hat das Kind sie gewarnt. Halt, nein, so geht's nicht. Dem Kind habe ich gesagt, wer ich bin. Aha, Moment! Geht mir ein Licht auf? Sie hat aus dem Fenster geschaut und einen Kerl in einem nicht mehr ganz neuen Burberry gesehen. Schuhgröße 45 ist ein Kerl in einem alten Burberry. Also, nehmen wir für einen Augenblick an, sie hält mich für Schuhgröße 45. Was macht sie? Vernünftigerweise bleibt sie außer Sichtweite - begreift nicht, wie ich so ein Narr sein und herkommen kann. Als Grimethorpe dann hinausrennt und nach den Hunden schreit, kommt sie unter Einsatz ihres Lebens heruntergeschlichen, um ihren - sagen wir kühn: Geliebten? zu warnen, daß er verschwinden soll. Sie entdeckt, daß er nicht ihr Geliebter ist, sondern nur ein blöd gaffender Esel von (wie ich fürchte) sehr entgegenkommendem Wesen. Neue peinliche Situation. Sie sagt dem Esel, er soll verschwinden, um sich und sie zu retten. Der Esel verschwindet - nicht eben anmutig. Die nächste Folge dieses berückenden Dramas sehen Sie demnächst in diesem Theater - wann? Das wüßte ich selbst nur zu gern.«
Er trottete eine Zeitlang weiter.
»Trotzdem«, gab er sich selbst die Antwort, »wird aus alldem nicht klarer, was Schuhgröße 45 am Riddlesdale Lodge gewollt hat.«
Am Ende seiner Wanderung hatte er noch immer keine Lösung gefunden.
»Was auch geschieht«, sagte er bei sich, »und wenn es geht, ohne ihr Leben in Gefahr zu bringen, muß ich Mrs. Grimethorpe wiedersehen.«
Die Rue St. Honoré und die Rue de la Paix
»Ich glaube, es war die Katze.«
H. M. S. Pinafore
Mr. Parker saß unglücklich in einem kleinen Appartement in der Rue St. Honoré. Es war drei Uhr nachmittags. Paris glänzte im Schein einer gedämpften, aber freundlichen Herbstsonne, doch das Zimmer lag nach Norden und wirkte bedrückend mit seinen dunklen, einfachen Möbeln und der Aura von Verlassenheit. Es war ein Männerzimmer, ganz im Stil eines diskreten Clubs eingerichtet; ein Zimmer, das unbeirrt das Geheimnis seines toten Bewohners wahrte. Zwei große, mit rotem Leder bezogene Sessel standen vor dem kalten Kamin. Auf dem Kaminsims stand eine bronzene Uhr, flankiert von zwei polierten deutschen Kartuschen, einem steinernen Tabakgefäß und einer orientalischen Messingschale, in der sich eine längst erkaltete Pfeife befand. An den Wänden hingen ein paar ausgezeichnete Stiche in schmalen Birnenholzrahmen und das Ölporträt einer ziemlich rosigen Dame aus der Zeit Karls II. Die Fenstervorhänge waren rot, und auf dem Boden lag ein solider türkischer Teppich. Gegenüber dem Kamin stand ein großer Mahagoni-Bücherschrank mit Glastüren, der einige englische und französische Klassiker nebst einer umfangreichen Sammlung von Büchern über Geschichte und internationale Politik enthielt, dazu ein paar französische Romane, eine Anzahl von Werken über militärische oder sportliche Themen und eine berühmte französische Ausgabe des Decamerone mit Illustrationen. Unter dem Fenster stand ein großer Schreibtisch.
Parker schüttelte den Kopf, nahm ein Blatt Papier und begann seinen Bericht zu schreiben. Er hatte um sieben gefrühstückt: Kaffee und Hörnchen; dann hatte er die Wohnung gründlich durchsucht; er hatte den Concierge ausgefragt, dann den Direktor des Crédit Lyonnais und den für diesen Stadtteil zuständigen Polizeipräfekten, und das Ergebnis war überaus mager.
Informationen aus Hauptmann Cathcarts Papieren:
Vor dem Krieg war Denis Cathcart zweifellos ein reicher Mann gewesen. Er besaß erhebliche Kapitalanlagen in Rußland und Deutschland und eine bedeutende Beteiligung an einem florierenden Weingut in der Champagne. Nachdem er mit einundzwanzig Jahren in den Besitz dieses Vermögens gelangt war, hatte er seinen dreijährigen Cambridge-Aufenthalt beendet und war viel gereist, hatte bedeutende Persönlichkeiten in verschiedenen Ländern aufgesucht und offenbar eine diplomatische Karriere angestrebt. In der Zeit zwischen 1913 und 1918 wurde die Geschichte, die die Bücher erzählten, immer interessanter, erstaunlicher und bedrückender. Bei Kriegsausbruch hatte er sich zum 15. ...shire-Regiment gemeldet. An Hand des Scheckbuchs konnte Parker das ganze Finanzgebaren eines jungen britischen Offiziers rekonstruieren - Kleidung, Pferde, Ausstattung, Reisen, Wein und Diners im Urlaub, Spielschulden, Miete für die Wohnung in der Rue St. Honoré, Clubbeiträge und was nicht sonst noch. Alle diese Ausgaben waren ausgesprochen mäßig und hielten sich im Rahmen seiner Einkünfte. Quittierte Rechnungen, säuberlich abgeheftet, füllten eine Schublade des Schreibtischs, und bei einem genauen Vergleich mit dem Scheckbuch und den Lastschriften ergaben sich keinerlei Diskrepanzen. Darüber hinaus aber scheint es noch einen anderen Kanal gegeben zu haben, in den Cathcarts Mittel flossen. Ab 1913 tauchten regelmäßig alle drei Monate, manchmal auch kürzer hintereinander, bestimmte hohe Barabhebungen auf, über deren
Verwendung sich der Schreibtisch diskret ausschwieg: keine Quittungen, keine Notizen über Geldausgaben.
Der große Knall, der 1914 die Weltwirtschaft erschütterte, spiegelte sich verkleinert in Cathcarts Bankbuch wider. Die Gutschriften aus russischen und deutschen Quellen versiegten schlagartig. Die Renditen seiner französischen Geldanlagen sanken auf ein Viertel ihrer ursprünglichen Höhe, denn die Flut des Krieges überspülte auch die Weinberge und riß die Arbeiter mit sich fort. Im ersten Jahr flossen ihm noch ansehnliche Dividenden aus französischen Obligationen zu; dann erfolgte eine ominöse Gutschrift über 20.000 Francs und sechs Monate später eine weitere über 30.000 Francs. Danach ging es schnell bergab. Parker sah im Geiste die kurzen Mitteilungen von der Front, in denen der Verkauf staatlicher Sicherheiten angeordnet wurde, während die Ersparnisse der letzten sechs Jahre im Mahlstrom steigender Preise und zusammenbrechender Währungen immer rascher davonwirbelten. Die Dividenden wurden kleiner und kleiner und versiegten endlich ganz; und dann erfolgte eine noch bedenklichere Serie von Lastschriften, in Form von Spesen für W echselprolongationen.