An diesem Punkt wurde er von einem noch unerfreulicheren Gedanken heimgesucht. Wenn es am Ende gar nicht Denver gewesen war, den Mrs. Marchbanks in der Bibliothek gehört hatte, sondern jemand anders - jemand, der ebenfalls eine Verabredung mit dem Erpresser hatte - jemand, der mit ihm gegen Cathcart unter einer Decke steckte - jemand, der wußte, daß die Begegnung gefährlich werden konnte? Hatte er, Parker, dem Rasenstück zwischen Haus und Gebüsch die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet? Hätte er dort vielleicht am Donnerstagmorgen noch hier und da einen niedergetretenen Halm gefunden, den Regen und Wurzelsäfte inzwischen wieder aufgerichtet hatten? Waren ihm und Peter im Wald auch keine Fußspuren entgangen? Hatte eine vertraute Hand den Schuß aus nächster Nähe abgegeben? Noch einmal - wem gehörte die grünäugige Katze?
Vermutungen über Vermutungen, und eine häßlicher als die andere, jagten sich in Parkers Kopf. Er griff nach einem Foto von Cathcart, das Peter ihm mitgegeben hatte, und betrachtete es lange und aufmerksam. Es war ein dunkles, hübsches Gesicht; die Haare schwarz und leicht gewellt, die Nase kräftig und wohlgeformt, die großen dunklen Augen sympathisch und arrogant zugleich. Der Mund wirkte angenehm, wenn auch die Lippen ein wenig zu dick waren und mit ihren starken Bögen Sinnlichkeit andeuteten; das Kinn hatte eine Spalte. Auf Parker wirkte das Gesicht, wenn er ehrlich sein sollte, nicht attraktiv; er würde eher dazu neigen, den Mann als »byronesken Widerling« abzutun, aber aus Erfahrung wußte er, daß so ein Gesicht sehr auf Frauen wirken konnte, sei es aus Liebe oder Haß.
Zufälle erscheinen oft wie Lausbubenstreiche der Vorsehung. Mr. Parker sollte in Kürze mit einem solchen -wenn der Ausdruck angemessen ist - Beispiel olympischen Humors beglückt werden. In der Regel widerfuhren derlei Dinge nicht ihm; sie lagen mehr auf Wimseys Linie. Parker hatte seinen Weg von bescheidenen Anfängen bis zu einer respektablen Stellung beim CID durch harte Arbeit kombiniert mit Intelligenz und Umsicht gemacht, weniger mit Hilfe spektakulärer Glückstreffer oder durch die Gabe, auf Erfolgswogen mitzuschwimmen. Diesmal aber bekam er wahrlich einen »Fingerzeig von oben«, und wie es wohl in der Natur von Dingen und Menschen liegt, war er ausgesprochen undankbar dafür.
Er schloß seinen Bericht ab, legte alles wieder ordentlich in den Schreibtisch zurück und ging zum Polizeirevier, um den Schlüssel abzugeben und mit dem Präfekten die Versiegelung der Wohnung zu regeln. Es war noch früh am Nachmittag und nicht zu kalt, und so beschloß er, seine trüben Gedanken mit einem Café-Cognac am Boul' Mich' zu vertreiben und danach einen Schaufensterbummel durch die Pariser Geschäftsstraßen zu machen. Als Mann von freundlicher Gemütsart und starkem Familiensinn erwog er sogar, für seine ältere Schwester, die unverheiratet war und in Barrow-in-Furness ein ziemlich freudloses Dasein fristete, etwas richtig Pariserisches zu kaufen. Er wußte, welch rührende Freude sie an hauchdünner Spitzenunterwäsche haben würde, die kein Mensch außer ihr selbst je zu sehen bekäme. Mr. Parker war auch nicht der Mann, der sich geniert hätte, in einer fremden Sprache nach Damenunterwäsche zu fragen; dazu mangelte es ihm an Phantasie. Er erinnerte sich, wie einmal ein Richter in der Verhandlung gefragt hatte, was ein Kamisol sei, und an der Beschreibung dieses Kleidungsstücks hatte er nichts Anstößiges gefunden. Also beschloß er, einen echt Pariser Laden aufzusuchen und ein Kamisol zu verlangen. Damit wäre ein Anfang gemacht, und Mademoiselle würde ihm dann schon noch andere Dinge zeigen, ohne daß er sie dazu erst auffordern müßte.
Gedacht, getan, und so sah man Mr. Parker gegen sechs Uhr mit einem kleinen Karton unterm Arm die Rue de la Paix entlangflanieren. Er hatte mehr Geld ausgegeben, als er eigentlich vorhatte, aber dafür hatte er seine Kenntnisse erweitert. Er wußte zum Beispiel jetzt genau, was ein Kamisol war und daß Crêpe de Chine für sein Volumen doch erstaunlich teuer ist. Die junge Dame war bezaubernd verständnisvoll gewesen und hatte ihrem Kunden, ohne dergleichen direkt anzudeuten, das Gefühl gegeben, ein kleiner Schwerenöter zu sein. Er fand auch, daß seine französische Aussprache immer besser wurde. Die Straße wimmelte von Menschen, die langsam an den strahlenden Schaufenstern entlangbummelten. Mr. Parker blieb wie selbstverständlich vor der prunkvollen Auslage eines Juweliergeschäfts stehen, als schwanke er zwischen einem Perlenhalsband für 80.000 Francs und einem in Platin gefaßten Anhänger aus Diamanten und Aquamarinen.
Und da sah er unter einem Schildchen mit der Inschrift »Bonne fortune« eine grünäugige Katze hängen, die ihn boshaft anblinzelte.
Die Katze sah Mr. Parker an, und Mr. Parker sah die Katze an. Es war keine gewöhnliche Katze. Sie hatte Persönlichkeit. Ihr kleiner, gebuckelter Körper glitzerte von Diamanten, und die eng beieinanderstehenden Platinpfoten und der funkelnde, aufgerichtete Schwanz sprachen von katzenhaft sinnlicher Lust bei der Berührung mit einem Objekt der Liebe. Ihr leicht zur Seite geneigter Kopf schien geradezu auf einen kraulenden Finger unterm Kinn zu warten. Es war ein kleines Kunstwerk, keine Dutzendarbeit. Mr. Parker kramte in seiner Brieftasche. Er sah von der Katze in seiner Hand zu der Katze im Schaufenster. Sie waren gleich. Sie waren sich erstaunlich gleich. Sie waren identisch. Mr. Parker betrat den Laden.
»Ich habe hier«, sagte er zu dem jungen Mann hinterm Ladentisch, »eine Brillantkatze, die einer Katze in Ihrem Schaufenster sehr ähnelt. Könnten Sie so freundlich sein und mir sagen, wieviel so eine Katze wert ist?«
Der junge Mann antwortete sofort:
»Gewiß, Monsieur. Die Katze kostet fünftausend Francs. Sie ist, wie Sie festgestellt haben werden, aus bestem Material. Außerdem ist sie ein Kunstwerk; sie ist viel kostbarer als der Marktwert der Steine.«
»Sie ist ein Talisman, nehme ich an?«
»Ja, Monsieur, sie bringt viel Glück, vor allem beim Kartenspiel. Viele Damen kaufen solche Glücksbringer. Wir haben hier noch andere, aber alle nach diesem Muster angefertigten sind in Qualität und Preis gleich. Monsieur können versichert sein, daß diese Katze einen reinen Stammbaum hat.«
»Ich denke doch, daß man solche Katzen überall in Paris bekommen kann?« warf Mr. Parker lässig hin.
»Aber nein, Monsieur. Wenn Sie Ihrer Katze eine Gefährtin geben wollen, empfehle ich Ihnen, es schnell zu tun. Monsieur Briquet hat von Anfang an nur zwanzig gehabt, und davon sind nur noch drei übrig, einschließlich der im Fenster. Ich glaube nicht, daß er noch mehr machen lassen wird. Wenn man etwas zu oft wiederholt, nimmt man ihm das Besondere. Natürlich werden wir andere Katzen hereinbekommen -«
»Ich will keine andere Katze«, sagte Mr. Parker, plötzlich interessiert. »Verstehe ich Sie also richtig, daß solche Katzen wie diese ausschließlich von Monsieur Briquet verkauft werden? Daß meine Katze ursprünglich aus diesem Laden kommt?«
»Zweifellos, Monsieur; das ist eine von unseren Katzen. Die Tierchen werden von einem unserer Goldschmiede hergestellt - er ist ein Genie und hat schon viele unserer hübschesten Artikel angefertigt.«
»Es läßt sich wohl nicht feststellen, an wen diese Katze ursprünglich verkauft wurde?«
»Wenn sie bar bezahlt wurde, dürfte das schwierig sein, aber wenn sie durch die Bücher gegangen ist, kann man es vielleicht noch feststellen, falls Monsieur es wünscht.«
»Und wie ich es wünsche«, sagte Parker und zückte seine Visitenkarte. »Ich bin Beamter der britischen Polizei, und es ist für mich überaus wichtig, zu erfahren, wem diese Katze zuerst gehört hat.«
»In diesem Falle«, sagte der junge Mann, »sollte ich lieber dem Geschäftsinhaber Bescheid sagen.«