Ich lege Dir zwei Fotos bei - die einzigen, die ich zur Zeit auftreiben kann. Das eine in der Schwesterntracht ist ziemlich schlecht, und auf dem anderen ist unter dem großen Hut kaum etwas von ihr zu sehen.
Ich hatte hier am Mittwoch ein recht merkwürdiges Abenteuer, von dem ich Dir erzählen werde, wenn wir wieder zusammen sind. Ich habe eine Frau kennengelernt, die offensichtlich mehr weiß, als sie wissen dürfte, sowie einen vielversprechenden Schurken - allerdings fürchte ich, er hat ein Alibi. Außerdem habe ich eine dunkle Ahnung, was es mit Schuhgröße 45 auf sich haben könnte. In Northallerton ist nicht viel passiert, nur daß Jerry natürlich bis zum Prozeß in Untersuchungshaft bleibt. Meine Mutter ist hier, Gott sei Dank! Ich hoffe, sie kann Mary ein wenig zur Vernunft bringen, aber an den letzten beiden Tagen war es noch schlimmer mit ihr -mit Mary, meine ich, nicht mit meiner Mutter -, immer furchtbar übel und so weiter. Dr. Soundso - ein Esel, wie er im Buche steht - weiß nichts mit ihr anzufangen. Mutter sagt, ihr sei alles sonnenklar, und sie werde das in Ordnung bringen, wenn ich mich noch ein, zwei Tage gedulden könnte. Ich habe sie Mary nach dem Kamm und der Katze fragen lassen. Mary leugnet die Katze rundweg ab, gibt aber den in Paris gekauften Brillantkamm zu - sie will ihn selbst gekauft haben. Er ist in London - ich werde ihn besorgen und Dir schicken. Sie sagt, sie kann sich nicht erinnern, wo sie ihn gekauft hat; die Rechnung hat sie auch nicht mehr, aber er habe nicht annähernd 7500 Francs gekostet. In Paris ist sie vom 2. bis 20. Februar gewesen. Meine Hauptaufgabe ist es jetzt, zu Lubbock zu gehen und eine kleine Angelegenheit zu klären, die mit Silbersand zu tun hat.
Das Assisengericht wird in der ersten Novemberwoche tagen - also Ende nächster Woche. Das macht die Sache ein bißchen eilig, was aber keine Rolle spielt, weil ihm da gar nicht der Prozeß gemacht werden kann; wichtig ist erst das Große Geschworenengericht, denn das muß auf Grund der vorliegenden Fakten eine Anklageschrift formulieren. Danach können wir die Sache hinausziehen, so lange wir wollen. Das wird noch ein furchtbarer Trubel. Parlamentssitzung und so weiter. Der gute Biggs ist unter seiner glatten Oberfläche ganz schön in Aufruhr. Ich habe mir nie richtig klargemacht, was es für ein Theater ist, einem Peer den Prozeß zu machen. Das kommt anscheinend nur alle sechzig Jahre einmal vor, und das Verfahren geht wohl noch auf Königin Elisabeth zurück. Man muß eigens einen Großhofmeister ernennen und weiß Gott was noch alles. Bei der Ernennung müssen sie peinlichst darauf achten, daß sie nur für diesen einen Zweck gilt, denn irgendwann unter Richard III. hatten sie mal einen Großhofmeister, der so machthungrig war, daß sie ihn gar nicht mehr loswurden. Als Heinrich IV. auf den Thron kam und dieses Amt an die Krone fiel, hat er es darum vorsichtshalber behalten, und jetzt verleihen sie den Titel nur noch pro tempore für Krönungen und Veranstaltungen wie die mit Jerry. Der König tut immer so, als wüßte er gar nicht, daß er keinen Großhofmeister hat, und ist maßlos erstaunt, daß er sich jemanden für den Posten ausdenken muß. Hast Du das alles gewußt? Ich nicht. Ich hab's Biggy aus der Nase gezogen.
Kopf hoch. Tu so, als wüßtest Du nicht, daß es sich bei einigen der Beteiligten um Verwandte von mir handelt. Meine Mutter sendet Dir herzliche Grüße und was noch alles und hofft, Dich bald mal wiederzusehen. Bunter läßt Dir irgend etwas Korrektes und Respektvolles ausrichten; ich habe vergessen, was.
Schöne Grüße von Spürhund zu Spürhund
Dein
Peter Wimsey«
Es darf hier gleich erwähnt werden, daß die Fotos keinerlei neue Aufschlüsse erbrachten.
Kleine Schwester ärgerlich
»Ich will ins öffentliche Leben einbringen, was jedermann von seiner Mutter mitbekommt.«
Lady Astor
Am Eröffnungstag des Assisengerichts in York erhob die Geschworenenkammer Anklage wegen Mordes gegen Gerald Herzog von Denver. Nachdem Gerald Herzog von Denver demzufolge dem Gericht vorgeführt worden war, beliebte es dem Richter, festzustellen (was sämtliche Zeitungen des Landes allerdings schon seit vierzehn Tagen der Welt verkündeten), daß er als kleiner Feld-, Wald- und Wiesenrichter mitsamt seiner plebejischen Jury nicht zuständig war, einem Peer des Königreichs den Prozeß zu machen. Er fügte jedoch hinzu, daß er es nicht versäumen werde, den Lordkanzler (der sich ebenfalls schon seit vierzehn Tagen über die Besetzung der Königlichen Galerie und die Auswahl der Lords für den parlamentarischen Sonderausschuß insgeheim den Kopf zerbrach) zu informieren. Nachdem dies ordnungsgemäß protokolliert war, wurde der wohlgeborene Untersuchungsgefangene wieder abgeführt.
Einen oder zwei Tage später läutete Mr. Charles Parker im Dämmerlicht eines Londoner Nachmittags im zweiten Stock des Hauses Piccadilly 110 A. Die Tür wurde von Bunter geöffnet, der ihm freundlich lächelnd mitteilte, daß Lord Peter für ein paar Minuten ausgegangen sei, ihn aber erwarte, und ob er bitte eintreten und warten wolle.
»Wir sind erst heute morgen wieder hierhergekommen«, fügte der Diener hinzu, »und haben uns noch nicht ganz eingerichtet, Sir, wenn Sie uns bitte entschuldigen wollen. Wäre Ihnen eine Tasse Tee angenehm?«
Parker nahm das Angebot an und ließ sich wohlig in eine Ecke des Chesterfieldsofas sinken. Nach der außerordentlichen Unbequemlichkeit französischer Möbel taten die einschläfernde Nachgiebigkeit unter ihm, die Kissen hinter seinem Kopf und Wimseys ausgezeichnete Zigaretten ihm besonders gut. Was Bunter mit »noch nicht ganz eingerichtet« meinte, blieb sein Geheimnis. Ein fröhlich flackerndes Holzfeuer spiegelte sich in der makellosen Politur des schwarzen Stutzflügels; die weichen Kalbslederrücken von Lord Peters Sammlung seltener Bücher schimmerten sanft vor den schwarzen und blaßgelben Wänden; in den Vasen standen lohgelbe Chrysanthemen; auf dem Tisch lagen die neuesten Ausgaben sämtlicher Zeitungen - als ob der Inhaber der Wohnung nie fortgewesen wäre.
Während Mr. Parker den Tee trank, nahm er die Fotos von Lady Mary und Denis Cathcart aus seiner Brusttasche. Er lehnte sie an die Teekanne und starrte von einem zum andern, als wollte er mit Gewalt einen tieferen Sinn aus ihren leicht geziert lächelnden, etwas verlegenen Mienen herauslesen. Noch einmal nahm er sich seine Pariser Aufzeichnungen vor und hakte verschiedene Punkte mit einem Bleistift ab. »Verflixt«, sagte Mr. Parker, den Blick fest auf Lady Mary geheftet. »Verflixt - verflixt - verflixt -«
Der Gedankengang, den er verfolgte, war außerordentlich interessant. In seinem Kopf jagten sich die Bilder, eines bedeutungsvoller als das andere. Natürlich konnte man in Paris nicht richtig denken - es war so unbequem dort, und die Häuser hatten Zentralheizung. Hier, wo schon so manches Rätsel entwirrt worden war, knisterte ein schönes Feuer im Kamin. Cathcart hatte vorm Feuer gesessen. Natürlich hatte er über ein Problem nachgegrübelt. Wenn Katzen vorm Feuer saßen und in die Flammen starrten, grübelten sie über Probleme nach. Wie eigenartig, daß er darauf nicht schon früher gekommen war. Wenn die grünäugige Katze vorm Feuer saß, versank man geradewegs in einen tiefen schwarzen, samtenen Beziehungsreichtum, der ungemein bedeutungsvoll war. Es war ein Genuß, so klar denken zu können, denn sonst wäre es schlimm gewesen, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten - und die schwarzen Sümpfe drehten sich so schnell Aber jetzt, da er die Formel wirklich gefunden hatte, würde er sie nie wieder vergessen. Der Zusammenhang war da - nah, voll und folgerichtig.