In diesem Augenblick trat Bunter mit einem an Wimsey adressierten Telegramm ein. Lord Peter las:
»Gesuchte Person in London aufgespürt; Freitag in Marylebone gesehen. Näheres von Scotland Yard.
Gosling, Polizeichef Ripley«
»Guter Mann!« rief Wimsey. »Jetzt kommen wir voran. Sei so gut und bleib hier für den Fall, daß noch etwas kommt. Ich sause mal eben zu Scotland Yard. Man wird dir etwas zu essen schicken, und Bunter bringt dir eine Flasche Château Yquem -der ist ganz gut. Bis dann!«
Er sauste aus der Wohnung, und Sekunden später schnurrte sein Taxi den Piccadilly hinauf.
Der Club und die Kugel
Er ist tot, er starb durch meine Hand, Es wäre besser, ich wäre tot, ich elende, schuldbeladene Kreatur.
Adventures of Sexton Blake
Stunde um Stunde wartete Mr. Parker auf die Rückkehr seines Freundes. Wieder und wieder ging er den Fall Riddlesdale durch, prüfte hier seine Notizen, ergänzte sie dort und beschäftigte sein müdes Gehirn mit den phantastischsten Spekulationen. Er ging im Zimmer auf und ab, nahm da und dort ein Buch vom Regal, klimperte ein paar ungeübte Akkorde auf dem Piano, blätterte in den Magazinen und tat dies und jenes. Schließlich nahm er sich einen Band aus der kriminologischen Abteilung der Bücherregale und zwang sich, seine Aufmerksamkeit jenem faszinierendsten und dramatischsten aller Giftmorde zu widmen - dem Fall Seddon. Mit der Zeit schlug das Geschehen ihn wie immer in seinen Bann, und so erschrak er nicht schlecht, als ein langes, energisches Läuten der Hausglocke ihn aufschauen ließ und er feststellen mußte, daß es schon nach Mitternacht war.
Sein erster Gedanke war, daß Wimsey seinen Schlüssel vergessen haben mußte, und er bereitete sich schon darauf vor, ihn mit einer spöttischen Bemerkung zu empfangen, als die Tür aufging - genau wie am Anfang einer Sherlock-Holmes-Geschichte - und eine große, schöne junge Frau eintrat. Sie befand sich in einem Zustand höchster Erregung, das goldene Haar umkränzte ihren Kopf wie ein Heiligenschein, ihre Augen leuchteten veilchenblau, und ihre Kleidung vervollständigte die wirre Erscheinung, denn als sie den dicken Reisemantel zurückschlug, sah er, daß sie darunter ein Abendkleid, hellgrüne Seidenstrümpfe und schwere Wanderschuhe trug, die vor Dreck strotzten.
»Seine Lordschaft ist noch nicht wieder da, Mylady«, sagte Mr. Bunter, »aber Mr. Parker wartet hier auf ihn, und wir rechnen jede Minute mit seiner Rückkehr. Haben Mylady einen Wunsch?«
»Nein, nein«, sagte die Erscheinung hastig, »danke, nichts. Ich warte. Guten Abend, Mr. Parker. Wo ist Peter?«
»Er wurde fortgerufen, Lady Mary«, sagte Parker. »Ich verstehe nicht, warum er noch nicht zurück ist. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Wohin ist er gegangen?«
»Zu Scotland Yard - aber das war schon gegen sechs. Ich kann mir nicht vorstellen -«
Lady Mary machte eine verzweifelte Gebärde.
»Ich hab's gewußt! Oh, Mr. Parker, was soll ich nur tun?«
Mr. Parker war sprachlos.
»Ich muß Peter sprechen«, rief Lady Mary. »Es geht um Leben und Tod. Könnten Sie nicht nach ihm schicken?«
»Aber ich weiß nicht, wo er ist«, antwortete Parker. »Bitte, Lady Mary -«
»Er steht im Begriff, etwas Schreckliches zu tun - er irrt sich«, rief die junge Dame und rang in äußerster Verzweiflung die Hände. »Ich muß ihn sprechen - ich muß es ihm sagen -, o Gott, ist je ein Mensch in so einer schrecklichen Lage gewesen? Ich - o nein!«
Hier begann die Dame plötzlich laut zu lachen und brach zugleich in Tränen aus.
»Lady Mary - ich flehe Sie an - bitte, nicht«, rief Mr. Parker besorgt und mit dem starken Gefühl, der Situation nicht gewachsen zu sein und ziemlich lächerlich zu wirken. »Bitte setzen Sie sich, trinken Sie ein Glas Wein. Sie werden noch krank, wenn Sie weiter so weinen. Sofern es noch Weinen ist«, ergänzte er bei sich. »Das klingt eher nach Schluckauf. Bunter!«
Mr. Bunter war nicht weit. Genauer gesagt, er stand schon mit einem kleinen Tablett vor der Tür. Mit einem respektvollen »Erlauben Sie, Sir«, nahte er der sich windenden Lady Mary und hielt ihr ein Fläschchen unter die Nase. Die Wirkung war verblüffend. Die Patientin stieß ein, zwei angstvolle kleine Quiekser aus, dann setzte sie sich aufrecht, kerzengerade und wutschnaubend.
»Bunter, was fällt Ihnen ein!« sagte Lady Mary. »Verschwinden Sie, sofort!«
»Mylady sollten vielleicht ein Schlückchen Cognac trinken«, sagte Mr. Bunter, indem er den Stöpsel wieder auf das Riechfläschchen tat, aber erst nachdem Parker den beißenden Ammoniakgeruch wahrgenommen hatte. »Das ist ein 1800er Napoleon, Mylady. Bitte schnauben Sie nicht so verächtlich, wenn ich mir den Rat erlauben darf. Seine Lordschaft wäre zutiefst gekränkt, wenn er glauben müßte, ich hätte etwas davon verschwendet. Haben Mylady auf dem Weg hierher schon gespeist? Nein? Sehr unklug, Mylady, so eine lange Reise mit leerem Magen zu unternehmen. Ich werde mir erlauben, Ihnen ein Omelette zu schicken. Vielleicht wünschen auch Sie einen kleinen Imbiß, Sir, da es schon so spät ist?«
»Ganz wie Sie wollen«, sagte Mr. Parker, nur um ihn loszuwerden. »Nun, Lady Mary, fühlen Sie sich jetzt besser? Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Mantel abnehme.«
Von nun an fiel kein aufregendes Wort mehr, bis das Omelette seiner Bestimmung zugeführt war und Lady Mary bequem auf dem Sofa saß. Sie hatte inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen. Wenn Parker sie so ansah, fiel ihm auf, wie sehr ihre zurückliegende Krankheit (wodurch auch immer hervorgerufen) sie gezeichnet hatte. Ihrem Teint fehlte dieses Leuchten, an das er sich erinnerte; sie sah müde und blaß aus und hatte violette Ringe unter den Augen.
»Es tut mir leid, daß ich mich vorhin so albern aufgeführt habe, Mr. Parker«, sagte sie, indem sie ihm mit entwaffnender Ehrlichkeit und voll Vertrauen in die Augen sah, »aber ich war so vollkommen verzweifelt und bin in solcher Eile von Riddlesdale hierhergekommen.«
»Keine Ursache«, sagte Parker wegwerfend. »Kann ich in Abwesenheit Ihres Bruders etwas für Sie tun?«
»Sie und Peter tun alles gemeinsam, nicht?«
»Ich glaube sagen zu können, daß keiner von uns etwas in dieser Sache weiß, was er dem andern nicht mitgeteilt hat.«
»Es ist also dasselbe, wenn ich es Ihnen sage?«
»Vollkommen dasselbe. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir die Ehre Ihres Vertrauens zu schenken -«
»Einen Augenblick noch, Mr. Parker. Ich bin in einer schwierigen Lage. Ich weiß nicht so recht, was ich - könnten Sie mir zuerst sagen, wie weit Sie sind - was Sie bisher schon herausbekommen haben?«
Mr. Parker war ein wenig bestürzt. Obwohl Lady Marys Gesicht seit der Untersuchungsverhandlung seine Phantasie beschäftigte, und obwohl der Aufruhr seiner Gefühle im Laufe dieses romantischen Zwiegesprächs auf den Siedepunkt gestiegen war, hatte sein Berufsinstinkt, der ihn zur Vorsicht mahnte, ihn doch noch nicht ganz verlassen. Immerhin hatte er Beweise für Lady Marys Mittäterschaft bei dem Verbrechen, wie auch immer diese aussah, und so weit vergaß er sich denn doch nicht, daß er gleich seine sämtlichen Karten aufgedeckt hätte.
»Ich fürchte«, sagte er, »das kann ich Ihnen nicht alles sagen. Sehen Sie, vieles von dem, was wir in Händen haben, ist bisher nur ein Verdacht. Womöglich täte ich, ohne es zu wollen, einem Unschuldigen großes Unrecht.«
»Sie haben also gegen jemanden einen ganz bestimmten Verdacht?«
»Wir haben ganz bestimmt jemanden im Verdacht«, antwortete Parker lächelnd. »Aber wenn Sie uns etwas sagen können, was Licht in die Sache bringt, bitte ich Sie, zu sprechen. Wir verdächtigen vielleicht einen ganz Falschen.«
»Das würde mich nicht wundern«, meinte Lady Mary mit einem kurzen, nervösen Lachen. Ihre Hände gingen zum Tisch und begannen die orangefarbene Decke in Falten zu legen. »Was wollen Sie wissen?« fragte sie plötzlich in ganz anderem Ton.