Sehr hervorgehoben wurde auch, daß der Herzog sich nicht imstande sah, für die Stunden von halb zwölf bis drei Uhr ein Alibi beizubringen. Aber, meine Lords, wenn es nun die Wahrheit ist, daß er die ganze Zeit im Moor herumlief, ohne einem Menschen zu begegnen, welches Alibi könnte er dann vorweisen? Er ist nicht verpflichtet, für jede Nebensächlichkeit, die er in diesen vierundzwanzig Stunden getan hat, ein Motiv anzugeben. Es wurde hier nichts vorgetragen, was seine Angaben widerlegen könnte. Und es ist vollkommen vernünftig, daß er, als er nach dem Streit mit Cathcart nicht einschlafen konnte, einen Spaziergang machte, um sich zu beruhigen.
Inzwischen hat Cathcart seinen Brief fertig geschrieben und in den Postsack gesteckt. Es gibt nichts Ironischeres an dem ganzen Fall als diesen Brief. Während die Leiche des Erschossenen auf der Schwelle des Hauses lag und Detektive und Ärzte überall nach Hinweisen suchten, ging die Routine eines normalen englischen Haushalts weiter, als ob nichts geschehen sei. Der Brief, der die ganze Geschichte enthielt, lag unbehelligt im Postsack und wurde ganz normal fortgebracht und aufgegeben, um zwei Monate später unter hohen Kosten, großem Zeitaufwand, sogar unter Lebensgefahr zurückgebracht zu werden, zu Ehren des großen englischen Mottos: >Die Geschäfte laufen weiter wie gewohnt«
Oben in ihrem Zimmer packt Lady Mary Wimsey gerade ihren Koffer und schreibt einen Abschiedsbrief für ihre Angehörigen. Cathcart hat seinen Brief schließlich fertig und setzt seinen Namen darunter; er nimmt den Revolver und eilt hinaus ins Gebüsch. Aber noch geht er auf und ab, mit den Gedanken Gott weiß wo - wahrscheinlich läßt er seine Vergangenheit an sich vorüberziehen, leidet die Qualen vergeblicher Reue und hegt vor allem bittere Gefühle gegenüber der Frau, die ihn ruiniert hat. Er besinnt sich auf das kleine Liebespfand, die Platinkatze mit Brillanten, die seine Geliebte ihm als Glücksbringer geschenkt hat! Das will er jedenfalls nicht auf dem Herzen tragen, wenn er stirbt. Mit einer wütenden Geste schleudert er es von sich. Dann setzt er die Pistole an den Kopf.
Aber etwas hält ihn zurück. Das nicht! Das nicht! Er sieht im Geiste seinen häßlich entstellten Körper - sein zerschmettertes Gesicht - die geplatzten Augäpfel, alles über und über mit Blut und Gehirn bespritzt. Nein! Soll die Kugel ihm sauber ins Herz dringen. Nicht einmal im Tode erträgt er den Gedanken, so auszusehen.
Er hält sich den Revolver an die Brust und drückt ab. Mit leisem Ächzen sinkt er auf den durchweichten Boden. Die Waffe fällt ihm aus der Hand; er greift sich mit den Händen an die Brust.
Der Wildhüter, der den Schuß gehört hat, wundert sich, daß Wilddiebe sich so nah heranwagen. Warum sind sie nicht draußen im Moor? Er denkt an die Hasen in der Schonung. Er nimmt seine Laterne und sucht im dichten Regen eine Weile herum. Nichts. Nur durchnäßtes Gras und tropfende Bäume. Er ist ein Mensch. Er sagt sich, daß seine Ohren ihn getäuscht haben müssen, und kehrt zurück ins warme Bett. Mitternacht vergeht. Ein Uhr geht vorbei.
Der Regen hat jetzt etwas nachgelassen. Da, im Gebüsch -was war das? Eine Bewegung. Der Erschossene bewegt sich -stöhnt ein wenig - versucht auf die Beine zu kommen. Durchgefroren bis auf die Knochen, schwach vom Blutverlust, zitternd vom Fieber seiner Verwundung erinnert er sich nur noch schwach an sein Vorhaben. Seine tastenden Hände suchen die Wunde an seiner Brust. Er nimmt sein Taschentuch und preßt es darauf. Mühsam erhebt er sich, taumelnd. Das Taschentuch entgleitet ihm und fällt zu Boden, wo es neben dem Revolver im gefallenen Laub liegenbleibt.
Etwas in seinem schmerzenden Kopf befiehlt ihm, sich zum Haus zurückzuschleppen. Er ist krank, leidet Schmerzen; abwechselnd wird ihm kalt und heiß, und einen entsetzlichen Durst hat er. Dort wird ihn jemand einlassen und gut zu ihm sein - ihm zu trinken geben. Schwankend und stockend, jetzt auf Hände und Knie niedersinkend, jetzt wieder hin und her torkelnd, tritt er diesen schrecklichen, alptraumhaften Weg zum Haus an. Teils geht er aufrecht, teils kriecht er und schleift die müden Glieder nach. Endlich - die Wintergartentür! Hier wird er Hilfe finden. Und Wasser für sein Fieber im Trog beim Brunnen. Auf allen vieren schleppt er sich hin, versucht sich daran hochzuziehen. Das Atmen wird ihm sehr schwer - ein erdrückendes Gewicht droht ihm die Brust zu zerquetschen. Er zieht sich hoch - ein furchtbarer Hustenkrampf befällt ihn -Blut schießt ihm aus dem Mund. Er stürzt. Nun ist wirklich alles vorüber.
Wieder vergehen Stunden. Drei Uhr, die Stunde des Rendezvous, rückt heran. Ungeduldig überspringt der junge Liebhaber die Umzäunung und kommt durchs Gebüsch geeilt, um seine zukünftige Braut zu holen. Es ist naß und kalt, aber sein Glück läßt ihm keine Zeit, sich um seine Umgebung zu kümmern. Achtlos durchquert er das Gebüsch. Er erreicht die Wintergartentür, durch die jeden Moment Liebe und Glück zu ihm herauskommen werden. Und in diesem Augenblick stolpert er - über einen Toten!
Angst ergreift ihn. Von ferne hört er Schritte nahen. Mit nur einem Gedanken - zu fliehen vor diesem Schrecken aller Schrecken - rennt er ins Gebüsch zurück, gerade als der Herzog von Denver, ein wenig müde vielleicht, aber nach seiner Wanderung doch etwas ruhiger geworden, schnellen Schrittes den Weg heraufkommt, um die ungeduldige Braut über der Leiche ihres Verlobten anzutreffen.
Meine Lords, der Rest ist klar. Lady Mary Wimsey, durch den schrecklichen äußeren Anschein gezwungen, ihren Geliebten als Mörder zu verdächtigen, unternahm den Versuch - mit welchem Mut, wird jeder Mann unter Ihnen erkennen -, zu verbergen, daß Goyles jemals am Schauplatz des Geschehens war. Diese ihre unbedachte Handlungsweise hat viele Fragen und Mißverständnisse verursacht. Aber, meine Lords, wo Ritterlichkeit obsiegt, wird niemand unter uns auch nur ein Wort des Vorwurfs gegen diese tapfere junge Dame erheben. Denn wie es in dem alten Lied heißt:
Gott gebe jedem Mann am End
Solche Falken, solche Hunde und solch einen Freund.
Ich glaube, meine Lords, daß es für mich nicht mehr zu sagen gibt. Ihnen überlasse ich nun die erhabene und beglückende Aufgabe, diesen edlen Peer, der einer der Ihren ist, von der ungerechten Anklage freizusprechen. Sie sind nur Menschen, meine Lords, und mancher unter Ihnen wird darüber gemurrt, mancher gespottet haben, daß Sie in diesem mittelalterlichen Gepränge, in Purpur und Hermelin, hier erscheinen mußten, die dem Geschmack unserer nüchternen Zeit so fremd sind. Sie wissen sehr wohl,
Es ist der Balsam nicht, der Ball und Zepter Das Schwert, der Stab, die hohe Herrscherkrone,
Das eingewirkte Kleid mit Gold und Perlen,
Der Titel, strotzend vor dem König her,
Der Thron, auf dem er sitzt, des Pompes Flut,
Die anschlägt an den hohen Strand der Welt,
die edlem Blut Würde verleihen kann. Und doch, das Haupt eines der ältesten und edelsten Häuser Englands Tag für Tag hier stehen zu sehen, ausgeschlossen aus Ihrem Kreise, seiner historischen Würden beraubt, gekleidet nur in die Gerechtigkeit seiner Sache - dieser Anblick kann es nicht verfehlt haben, Ihr Mitleid und Ihre Empörung zu erregen.
Meine Lords, es ist Ihr schönes Privileg, Seiner Gnaden dem Herzog von Denver diese traditionellen Symbole seines hohen Ranges wiederzugeben. Wenn der Sekretär dieses hohen Hauses nun jedem einzelnen von Ihnen die feierliche Frage stellen wird: Befinden Sie Gerald Herzog von Denver, Viscount St. George, schuldig oder nicht schuldig des furchtbaren Verbrechens des Mordes, so kann ein jeder von Ihnen aus voller Überzeugung, auf der auch nicht der Schatten eines Zweifels ruht, die Hand aufs Herz legen und sprechen: >Nicht schuldig, bei meiner Ehre.<«
Wer will nach Hause?
»Betrunken wie ein Lord? Als Klasse gesehen sind sie eigentlich sehr nüchtern.«
Richter Cluer, in der Verhandlung