Während der Anklagevertreter sich der undankbaren Aufgabe unterzog, zu verdunkeln, was nicht nur klar war, sondern auch jedermanns Gefühlen entgegenkam, entführte Lord Peter seinen Freund Parker in ein Lyons-Restaurant gegenüber und hörte sich über einer Riesenportion Speck und Ei einen kurzen Bericht über Mrs. Grimethorpes Flucht nach London und einen langen über Lady Marys Kreuzverhör an.
»Was grinst du die ganze Zeit?« fuhr der Erzähler ihn an.
»Angeborener Schwachsinn«, sagte Lord Peter. »Der arme Cathcart, kann ich nur sagen. Das war eine Frau! Das heißt, ich nehme an, sie ist es noch. Wieso rede ich von ihr, als ob sie in dem Augenblick gestorben wäre, als ich den Blick von ihr wandte?«
»Du bist eben ein schrecklicher Egozentriker«, knurrte Parker.
»Ich weiß. Das war ich schon als Kind. Was mir Sorgen macht ist meine Empfänglichkeit für so was in letzter Zeit. Als Barbara mir weglief -«
»Davon bist du geheilt«, unterbrach sein Freund ihn roh. »Wenn du's genau wissen willst, das merke ich schon seit einiger Zeit.«
Lord Peter seufzte schwer. »Deine Aufrichtigkeit in Ehren, Charles«, sagte er, »aber ich wollte, du hättest nicht so eine unfreundliche Art, die Dinge auszudrücken. Außerdem - he, kommen die etwa schon raus?«
Die Menge auf dem Parliament Square geriet in Bewegung. Menschengruppen lösten sich auf und verteilten sich in dünnen Rinnsalen über die Straße. Ein Flecken Purpur erschien vor dem grauen Gestein von St. Stephen. Plötzlich kam Mr. Murbles' Sekretär zur Tür hereingerannt.
»Alles in Ordnung, Mylord - Freispruch - einstimmig -, und ob Sie bitte herüberkommen möchten, Mylord?«
Sie liefen hinaus. Bei Lord Peters Anblick brachen ein paar aufgeregte Umstehende in Jubelrufe aus. Ein heftiger Wind fegte plötzlich über den Platz und blähte die blutroten Roben der herauskommenden Peers. Lord Peter wurde von einem zum andern geschubst, bis er den Mittelpunkt des Gedränges erreichte.
»Entschuldigen Sie, Euer Gnaden.«
Es war Bunter. Bunter, wunderbarerweise mit einem Bündel Purpur und Hermelin über den Armen, um den schändlichen blauen Straßenanzug zu verhüllen, dieses Brandmal der Unehre.
»Erlauben Sie mir, Ihnen meine untertänigsten Glückwünsche auszusprechen, Euer Gnaden.«
»Bunter!« rief Lord Peter. »Großer Gott, der Mann ist wahnsinnig geworden! Zum Teufel, Mann, tun Sie das Ding weg«, fügte er hinzu und warf sich einem hochgewachsenen Fotografen mit Kaufhauskrawatte entgegen.
»Zu spät, Mylord«, antwortete der Missetäter strahlend und schob die Platte ein.
»Peter«, sagte der Herzog. »Äh - vielen Dank, alter Junge.«
»Schon gut«, antwortete Seine Lordschaft. »Vergnügliche Reise und so. Du siehst blendend aus. O nein, gib mir jetzt nicht die Hand - da, ich hab's doch gewußt! Da hat dieser Kerl schon wieder seinen Verschluß klicken lassen.«
Sie bahnten sich durch das immer dichter werdende Gedränge einen Weg zu den Wagen. Die beiden Herzoginnen stiegen ein, und der Herzog folgte, als eine Kugel durchs
Fenster platzte, Denvers Kopf um Zentimeter verfehlte und von der Windschutzscheibe mitten in die Menge zurücksprang.
Ein erregter Aufschrei. Ein großer, bärtiger Mann rang einen kurzen Augenblick mit drei Konstablern; es folgte eine Serie ungezielter Schüsse, ein mächtiger Satz - die Menge teilte sich, dann setzte sie nach wie die Meute dem Fuchs, an den Parlamentsgebäuden vorbei in Richtung Westminster Bridge.
»Er hat eine Frau erschossen - da unter dem Bus ist er -nein, doch nicht - heda! Mörder! - Haltet ihn!« Rufe gellten -Polizeipfeifen schrillten - aus allen Ecken kamen Konstabler angerannt - tauchten in Taxis - liefen.
Der Fahrer eines Taxis, das gerade über die Brücke kam, sah plötzlich das wilde Gesicht genau vor seiner Motorhaube und trat hart auf die Bremse, als der Verrückte zum letztenmal den Finger um den Abzug krümmte. Schuß und Reifen explodierten fast gleichzeitig; das Taxi schleuderte hilflos nach rechts, riß den Flüchtigen mit sich und raste mit furchtbarem Krach gegen einen Straßenbahnwagen, der leer an der Endstation Embankment stand.
»Ich kann nichts dafür!« schrie der Taxifahrer. »Er hat auf mich geschossen. Mein Gott, ich kann nichts dafür!«
Lord Peter und Parker trafen keuchend beide gleichzeitig ein.
»Heda, Konstabler«, japste Seine Lordschaft, »ich kenne den Mann. Er hat etwas gegen meinen Bruder. Hat irgendwas mit Wilderei zu tun - oben in Yorkshire. Sagen Sie dem Untersuchungsrichter, er soll sich um nähere Informationen an mich wenden.«
»Sehr wohl, Mylord.«
»Fotografieren Sie das doch nicht!« sagte Lord Peter zu dem Mann mit der Kamera, den er plötzlich neben sich stehen sah.
Der Fotograf schüttelte den Kopf.
»Das sehen die Leute nicht gern, Mylord. Nur den Unfallort und den Krankenwagen. Schöne interessante Bildchen, verstehen Sie? Nichts Grausiges -« er deutete erklärend mit dem Kopf auf die großen dunklen Flecken auf der Straße -»das macht sich nicht bezahlt.«
Von irgendwoher aus dem Nichts erschien ein rothaariger Reporter mit einem Notizbuch.
»Kommen Sie her«, sagte Seine Lordschaft, »wollen Sie die Geschichte hören? Ich erzähle sie Ihnen sofort.«
Die Angelegenheit mit Mrs. Grimethorpe löste sich schließlich ohne die allermindesten Schwierigkeiten. Wohl selten hat eine herzogliche Eskapade mit weniger Peinlichkeit ihr Ende gefunden. Seine Gnaden, ganz Gentleman, hatte sich bereits tapfer für eine traurig-rührselige Aussprache gewappnet. Bei allen Dummheiten, die er im Leben begangen hatte, war er noch nie einfach davongelaufen oder einem Tränenstrom mit diesem aufreizenden »Also, ich sollte jetzt wohl gehen« begegnet, das schon so oft zu Verzweiflung, mitunter zu kaltblütigem Mord geführt hat. Diesmal aber fiel die ganze Szene überhaupt ins Wasser. Die Dame war nicht interessiert.
»Ich bin jetzt frei«, sagte sie. »Ich werde zu meinen Angehörigen nach Cornwall zurückgehen. Ich brauche nichts, jetzt, nachdem er tot ist.« Des Herzogs pflichtschuldige Liebkosung war ein höchst uninteressanter Fehlschlag.
Lord Peter begleitete sie zu einem ordentlichen kleinen Hotel in Bloomsbury. Sie genoß die Taxifahrt, die großen, prunkvollen Läden, die Lichtreklamen. Am Piccadilly Circus hielten sie an, um den Bonzo-Hund seinen Glimmstengel paffen und das Nestle-Baby sein Milchfläschchen nuckeln zu sehen. Sie war sehr erstaunt, daß die Preise für die Waren im Schaufenster von Swan & Edgar eher vernünftiger waren als derzeit in Stapley.
»Einen von diesen blauen Schals hätte ich gern«, sagte sie, »aber ich glaube, für mich als Witwe wäre er nicht ganz passend.«
»Sie können ihn sich ja jetzt kaufen und später tragen«, riet Seine Lordschaft. »In Cornwall, verstehen Sie?«
»Ja.« Sie sah an ihren groben braunen Sachen hinunter. »Ob ich meine Trauerkleidung hier kaufen kann? Ich brauche ja welche für die Beerdigung. Nur ein Kleid und einen Hut - und vielleicht einen Mantel.«
»Ich fände die Idee ganz gut.«
»Jetzt gleich?«
»Warum nicht?«
»Ich habe Geld«, sagte sie. »Ich hab's aus seinem Schreibtisch genommen. Jetzt gehört es ja wohl mir. Nicht daß ich ihm irgendwie etwas verdanken möchte. Aber so sehe ich es gar nicht an.«
»An Ihrer Stelle würde ich mir darüber keine Gedanken machen«, sagte Lord Peter.
Sie trat vor ihm in den Laden - endlich ihre eigene Herrin.
In den frühen Morgenstunden erblickte Inspektor Sugg, der zufällig über den Parliament Square kam, einen Taxifahrer, der allem Anschein nach dem Denkmal Lord Palmerstons eine leidenschaftliche Standpauke hielt. Entrüstet ob dieses widersinnigen Tuns ging Inspektor Sugg näher, als er bemerkte, daß der Staatsmann seinen Sockel mit einem Herrn im Abendanzug teilte, der sich mit einer Hand in waghalsiger Pose festklammerte und mit der andern eine leere Champagnerflasche vors Auge hielt, mit der er die umliegenden Straßen absuchte.