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Sie ging zur Magnettafel hinüber. Was hatten ihre tagelangen Bemühungen ihnen bisher eingebracht? Drei manipulierte Ausrüstungsteile, das blaue Auge des Opfers, Fingerabdrücke auf Santo Kernes Wagen, ein Haar in seiner Kletterausrüstung, den Leumund des Opfers, zwei Fahrzeuge in der näheren Umgebung der Unglücksstelle und die Tatsache, dass der Junge gleichzeitig eine Beziehung mit Madlyn Angarrack und mit einer Tierärztin aus Bristol gepflegt hatte. Das war alles. Absolut nichts Substanzielles, auf das sie aufbauen, geschweige denn eine Verhaftung gründen konnten. Kerne war seit über zweiundsiebzig Stunden tot, und eines war klar: Jede Stunde, die nach einem Mord verstrich, ohne dass eine Festnahme erfolgte, erschwerte die Lösung des Falls.

Bea betrachtete die Namensliste derer, die entweder unmittelbar oder indirekt mit diesem Fall in Verbindung standen. Es schien, als hätte jeder, der Santo Kerne gekannt hatte, zu irgendeinem Zeitpunkt Zugang zu seiner Kletterausrüstung gehabt. Es hatte also wenig Sinn, in diese Richtung weiterzuermitteln. Das Motiv hinter der Tat war alles, was Bea blieb.

Sex, Macht und Geld, dachte sie. Waren sie nicht seit jeher die besten Motive gewesen? Vielleicht waren sie in der Anfangsphase einer Ermittlung nicht immer sogleich offensichtlich, aber tauchten sie früher oder später nicht jedes Mal auf? Selbst wenn man Eifersucht, Zorn, Rache und Habgier zu ihren Wurzeln zurückverfolgte, waren es nicht wieder Sex, Macht und Geld, auf die man stieß? Und wenn es so war, wo steckten diese drei Urmotive in diesem Fall?

Bea machte den einzigen nächsten Schritt, der ihr einfieclass="underline" Sie erstellte eine Liste. Sie schrieb die Namen derer auf, die zum derzeitigen Stand der Ermittlung als Tatverdächtige infrage kamen, und ein mögliches Motiv daneben. Lew Angarrack rächte das gebrochene Herz seiner Tochter (Sex); Jago Reeth rächte das gebrochene Herz seiner Ersatzenkelin (wieder Sex); Kerra Kerne beseitigte ihren Bruder, um Alleinerbin von Adventures Unlimited zu sein (Macht und Geld); Will Mendick hoffte auf Madlyn Angarracks Zuneigung und beseitigte den Rivalen (wieder Sex); Madlyn rächte sich für Santos Zurückweisung und Untreue (schon wieder Sex); Alan Cheston strebte nach mehr Einfluss bei Adventures Unlimited (Macht); Daidre Trahair machte ihrer Position als Nebenfrau ein Ende, indem sie den Mann beseitigte (noch mal Sex). Santo Kernes Eltern schienen kein Motiv zu haben; ebenso wenig Tammy Penrule. Also, fragte sich Bea, was blieb? Reichlich Motive, reichlich Gelegenheiten, und auch die Mittel waren zur Hand gewesen. Die Netzschlinge war zerschnitten und dann mit Santos eigenem Klebeband geflickt worden. Zwei Klemmkeile waren…

Vielleicht waren die Klemmkeile der Schlüssel? Da das Kabel aus Strängen starken Drahts bestand, brauchte man ein spezielles Werkzeug, um es zu zerschneiden. Vielleicht einen Bolzenschneider. Eine Drahtschere. Musste sie dieses Werkzeug suchen, um den Mörder zu finden? Immerhin eine Möglichkeit.

Was jedoch auffiel, war die große Gelassenheit hinter dem Verbrechen. Der Mörder hatte sich darauf verlassen, dass der Junge die beschädigte Schlinge oder einen der Klemmkeile früher oder später benutzen würde; Zeit schien keine Rolle gespielt zu haben. Auch schien es dem Täter egal gewesen zu sein, ob der Junge auf der Stelle tot sein würde, denn Santo hätte sowohl die Schlinge als auch die Klemmkeile bei einer harmloseren Kletterübung verwenden können und wäre womöglich nur gefallen und hätte sich vielleicht nicht einmal verletzt, und dann hätte der Mörder sich einen neuen Plan ausdenken müssen.

Sie suchten also nicht nach jemand Ungeduldigem, der ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen hatte. Sie suchten nach jemand Ausgefuchstem. Und Ausgefuchstheit deutete stets auf Frauen hin. Das tat die Vorgehensweise dieses Verbrechens ohnehin, denn wenn Frauen mordeten, legten sie in der Regel nicht unmittelbar Hand an.

Dieser Gedankengang führte sie zurück zu Madlyn Angarrack, Kerra Kerne und Daidre Trahair und zu der Frage, wo zum Teufel die Tierärztin den ganzen Tag gesteckt hatte. Und das brachte sie unweigerlich zu Thomas Lynley und seiner Anwesenheit in Polcare Cove an diesem Morgen, was sie schließlich bewog, zum Telefon zu greifen und die Nummer des Handys zu wählen, das sie ihm gegeben hatte.

»Also, was haben wir?«, fragte sie, als es ihr im dritten Anlauf gelang, ihn zu erreichen. »Und wo in Gottes Namen treiben Sie sich herum?«

Er sei auf dem Rückweg nach Casvelyn, antwortete er. Er habe den Tag in Newquay, Zennor und Pengelly Cove verbracht. Auf ihre Frage, was zum Henker das mit Daidre Trahair zu tun habe, die sie übrigens immer noch sprechen wolle, erzählte er ihr eine Geschichte von jugendlichen Surfern, Sex, Drogen, Alkohol, Partys, Strandhöhlen und Tod. Reiche Kids, arme Kids und Cops, die es nicht geschafft hatten, den Fall zu lösen, obwohl irgendjemand geredet hatte.

»Es geht um Ben Kerne«, sagte Lynley. »Seine Freunde haben von Anfang an geglaubt, Dellen sei diejenige gewesen, die ihn angeschwärzt hatte. Dellen Kerne, meine ich. Bens Vater glaubt das im Übrigen auch.«

»Und inwieweit ist das relevant?«, fragte Bea müde.

»Ich glaube, die Antwort hierauf liegt in Exeter.«

»Sind Sie jetzt auf dem Weg dorthin?«

»Morgen«, erwiderte er. Er hielt inne, ehe er hinzufügte: »Dr. Trahair habe ich heute übrigens nicht gesehen. Ist sie aufgetaucht?« Nach Beas Geschmack klang er viel zu gelassen, und sie war kein Dummkopf.

»Keine Spur von ihr. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Es kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht ist sie nach Bristol zurückgefahren.«

»Oh, ich bitte Sie! Das glaube ich keine Sekunde.«

Er schwieg. Das war Antwort genug.

»Ich habe Ihre Freundin Havers geschickt, um sie herzuschaffen, falls Dr. Trahair nach Hause gekrochen kommt«, berichtete Bea ihm.

»Sie ist nicht meine Freundin Havers«, entgegnete Lynley.

»Sagen Sie das nicht«, erwiderte Bea und beendete das Gespräch.

Keine fünf Minuten später rief besagte Sergeant Havers selbst sie auf dem Handy an.

»Nichts«, verkündete sie knapp, und in der schlechten Verbindung rauschte es unablässig. »Soll ich noch länger warten? Kann ich machen, wenn Sie wollen. Ich habe nicht oft Gelegenheit, in aller Ruhe eine Zigarette zu rauchen und der Brandung zu lauschen.«

»Sie haben lange genug gewartet«, entschied Bea. »Fahren Sie zurück ins Salthouse Inn. Ihr Superintendent Lynley ist auch schon auf dem Weg dorthin.«

»Er ist nicht mein Superintendent Lynley«, widersprach Havers.

»Was ist nur los mit euch beiden?«, seufzte Bea und legte auf, ehe Sergeant Havers antworten konnte.

Ihre letzte Amtshandlung, bevor auch sie nach Hause fahren wollte, war, Pete anzurufen und ihre mütterliche Sorge um seine Kleidung, Ernährung, Hausaufgaben und Fußball kundzutun und sich nach den Hunden zu erkundigen. Wäre es zufällig Ray, der ans Telefon ging, würde sie höflich, aber sachlich-distanziert bleiben.

Doch sie konnte sich die Mühe sparen; Pete nahm ihren Anruf selbst entgegen. Er war ganz aus dem Häuschen über einen neuen Spieler, den Arsenal eingekauft hatte, irgendjemanden mit einem unaussprechlichen Namen aus… hatte er wirklich gesagt, vom Südpol? Nein, er musste São Paulo gesagt haben.

Bea äußerte sich mit angemessener Begeisterung und strich im Geiste das Thema Fußball von ihrer Liste, arbeitete dann seine Mahlzeiten und Schularbeiten ab und wollte gerade zur Kleidung übergehen — er hasste es, bezüglich seiner Unterwäsche befragt zu werden, aber wenn sie es nicht verhinderte, trug er nun mal dieselbe Unterhose eine ganze Woche lang, — als er sie unterbrach: »Dad will, dass du ihm Bescheid gibst, wenn der nächste Sporttag in der Schule ist, Mum.«