McNulty sah nicht gerade glücklich aus, aber er sagte: »Okay, Detective.« Er machte kehrt und schlug den Weg ein, den er mit Pete gekommen war.
Kerra Kerne war vollkommen erledigt und durchnässt, weil sie ihre oberste Regel gebrochen hatte: Gegenwind auf dem Hinweg, Rückenwind auf dem Weg nach Hause. Doch sie hatte es so eilig gehabt, aus Casvelyn hinauszukommen, dass sie es zum ersten Mal seit Ewigkeiten versäumt hatte, im Internet nachzusehen, ehe sie ihre Montur übergezogen hatte und aus der Stadt geradelt war. Sie hatte nur die Lyckcrakombi und den Helm getragen, und sie hatte so emsig in die Pedale getreten, dass sie schon zehn Meilen außerhalb von Casvelyn war, ehe sie aufblickte, um festzustellen, wo genau sie sich befand. Und auch dann war es allein die Strecke, die sie beachtete, und nicht die Windverhältnisse. Sie war einfach immer weiter in östlicher Richtung geradelt. Und als das Unwetter aufzog, war sie so weit draußen gewesen, dass ihr, um ihm zu entgehen, nur geblieben wäre, einen Unterstand aufzusuchen, und das hatte sie nicht gewollt. So hatte sie sich also die fünfunddreißig Meilen nach Hause gequält, nass bis auf die Haut und müde bis in die Knochen.
Daran war einzig und allein Alan schuld, befand sie. Alan Cheston blind, dämlich und angeblich ihr Lebensgefährte, mit allem Drum und Dran, was der Begriff "Lebensgefährte" einschließen mochte. Der jedoch eine Entscheidung getroffen hatte, die sie niemals würde gutheißen können. Und auch ihrem Vater gab sie die Schuld. Er war ebenso blind und dämlich, wenn auch in völlig anderer Weise und aus ganz anderen Gründen.
Schon vor fast einem Jahr hatte sie zu Alan gesagt: »Bitte tu es nicht. Es wird nicht klappen. Es wird…«
Und er war ihr ins Wort gefallen. Das kam selten vor, hätte ihr aber etwas über ihn verraten sollen, was sie noch nicht wusste. Doch sie hatte die Zeichen nicht erkannt. »Warum sollte es nicht klappen? Wir werden uns nicht einmal oft sehen, falls es das ist, was dir Sorgen macht.«
Doch das war nicht der Grund für ihre Sorge gewesen. Sie wusste, was er sagte, entsprach der Wahrheit. Er würde das tun, was immer man in einer Marketingabteilung tat, die weniger eine Abteilung als vielmehr ein alter Konferenzraum hinter der einstigen Rezeption des heruntergekommenen Hotels war. Sie selbst würde die angehenden Trainer ausbilden. Er würde das Chaos beseitigen, das ihre Mutter als angebliche Direktorin jener nicht existenten Marketingabteilung hinterlassen hatte, während sie Kerra auf der Suche nach geeigneten Mitarbeitern wäre. Vielleicht würden sie sich hin und wieder in der Frühstücks- oder Mittagspause treffen, vielleicht aber auch nicht. Es stand also nicht zu befürchten, dass sie tagsüber aufeinanderhängen und dann später am Abend aufeinanderliegen würden.
Er hatte gefragt: »Siehst du denn nicht ein, Kerra, dass ich hier in Casvelyn eine vernünftige Arbeit brauche? Und genau das ist dieser Job! Sie hängen hier ja nicht gerade an den Bäumen, und es war ziemlich anständig von deinem Vater, ihn mir anzubieten. Geschenkter Gaul und so weiter.«
Ihr Vater war wohl kaum ein geschenkter Gaul, dachte sie, und es war erst recht nicht der Anstand, der ihn bewogen hatte, Alan die Stelle anzubieten. Sie brauchten jemanden, der Adventures Unlimited in der Öffentlichkeit publik machte, und sie brauchten einen ganz bestimmten Jemand dafür. Alan Cheston schien genau dieser Jemand zu sein, nach dem ihr Vater gesucht hatte.
Ihr Vater ließ sich in seinen Entscheidungen gerne vom äußeren Anschein leiten. In seiner Vorstellung entsprach Alan einem bestimmten Typus. Oder, genauer gesagt, er entsprach einem gewissen Typus eben nicht. Ihr Vater glaubte, der Typus, den sie bei Adventures Unlimited nicht brauchen konnten, war der Maskuline: Dreck unter den Fingernägeln, ein Kerl, der eine Frau aufs Bett warf und es ihr besorgte, bis sie Sterne sah. Was er nicht begriff und nie begriffen hatte, war, dass es keinen derartigen Typus gab. Es gab nur Männer. Und trotz der abfallenden Schultern, der Brille, trotz des vorstehenden Adamsapfels und der zarten Hände mit den langen, tastenden, spachtelförmigen Fingern war Alan Cheston ein Mann. Er dachte wie ein Mann, handelte wie ein Mann, und das war das Entscheidende er reagierte wie ein Mann. Und genau deshalb hatte Kerra auf stur geschaltet, doch es hatte nicht gefruchtet, weil sie eben auch nicht mehr gesagt hatte als: »Es wird nicht funktionieren.« Da das nichts nützte, hatte sie den einzigen Weg gewählt, der ihr in dieser Situation noch offenstand, und ihm gesagt, dass sie ihre Beziehung dann wohl würden beenden müssen, woraufhin er in aller Seelenruhe und ohne den leisesten Hauch von Panik in der Stimme erwidert hatte: »Ist es das, was du tust, wenn du nicht bekommst, was du willst? Du servierst die Menschen einfach ab?«
»Ja«, hatte sie erklärt. »Genau das ist es, was ich tue. Aber nicht dann, wenn ich nicht bekomme, was ich will. Sondern dann, wenn die Menschen nicht auf das hören, was ich ihnen zu ihrem eigenen Besten rate.«
»Wie kann es zu meinem Besten sein, diesen Job nicht anzunehmen? Er bringt Geld. Er bietet eine Zukunft. Ist es nicht das, was du willst?«
»Anscheinend nicht«, antwortete sie.
Trotzdem war sie nicht in der Lage gewesen, ihre Drohung wahrzumachen, was zum Teil daran lag, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie es wäre, tagsüber mit Alan zu arbeiten, ihn aber abends nicht mehr zu sehen. Sie war schwach in dieser Hinsicht, und sie verabscheute ihre Schwäche, zumal sie ihn sich doch vornehmlich ausgesucht hatte, weil er der Schwache zu sein schien: rücksichtsvoll, was sie für unterwürfig, und behutsam, was sie für zaghaft gehalten hatte. Doch seit er bei Adventures Unlimited arbeitete, hatte er bewiesen, dass er genau das Gegenteil davon war, und das machte ihr eine Himmelangst.
Ein Weg, diese Angst loszuwerden, war, sie zu konfrontieren, doch das hätte geheißen, Alan selbst zu konfrontieren. Nur wie? Sie hatte anfangs gegrollt, dann hatte sie abgewartet, beobachtet und zugehört. Das Unvermeidliche war genau das: unvermeidlich. Und wie sie es auch früher immer schon getan hatte, hatte sie die Zeit genutzt, um sich zu stählen. Sich innerlich zu distanzieren, während sie äußerlich Selbstsicherheit zur Schau trug.
An dieser Rolle hatte sie bis heute festgehalten, genau bis zu dem Moment, da er ihr eröffnete: »Ich muss für ein paar Stunden weg, runter an die Küste.« Das hatte Alarmsirenen in ihrem Hirn ausgelöst. Und an dem Punkt war ihr nichts anderes mehr übrig geblieben, als sich aufs Rad zu schwingen und schnell und weit weg zu fahren. Sich so zu verausgaben, dass sie nicht mehr denken konnte und somit auch nicht mehr leiden. Darum hatte sie sich all ihren Verpflichtungen zum Trotz auf den Weg gemacht. Sie war den St. Mevan Crescent entlanggefahren, dann hinüber zum Burn View, die Lansdown Road und The Strand hinab und von dort aus der Stadt hinaus.
Sie war immer weiter in Richtung Osten gefahren, auch noch lange nachdem sie hätte kehrtmachen sollen. So kam es, dass es bereits dunkel wurde, als sie zum letzten Anstieg The Strand hinauf den Gang herunterschaltete. Die Geschäfte hatten schon geschlossen, die Restaurants waren geöffnet, wenn auch zu dieser Jahreszeit schwach besucht. Wimpelleinen hingen lustlos und tröpfelnd über der Straße, und die einsame Ampel auf der Kuppe des Hügels warf ihr einen roten Lichtkegel entgegen. Kein Mensch war auf dem nassen Bürgersteig unterwegs, aber das würde sich in zwei Monaten ändern, wenn die Sommergäste in Casvelyn einfielen, um sich an seinen zwei weiten Stränden zu vergnügen, an der Brandung, dem Meerwasserpool, dem Vergnügungspark und, so stand zu hoffen, an den Aktivitäten, die Advencktures Unlimited feilbot.
Es war der Traum ihres Vaters gewesen: das leer stehende, 1933 erbaute Hotel zu kaufen, das auf einer Landzunge oberhalb von St. Meckvan Beach lag, und es in ein Sporthotel zu verwandeln — ein enormes Risiko für die Kernes, und wenn es nicht klappte, würden sie vor dem Ruin stehen. Aber ihr Vater war ein Mann, der auch schon in der Vergangenheit Risiken eingegangen war, und sie hatten immer Früchte getragen, denn das Einzige im Leben, wovor er keine Angst hatte, war harte Arbeit. Was all die anderen Dinge im Leben ihres Vaters betraf… Kerra hatte zu viele Jahre damit zugebracht, nach dem Warum zu fragen, und keine Antwort bekommen.