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Als sie schließlich geheiratet hatten, war es ihm vorgekommen, als habe er einen exotischen Vogel eingefangen. Doch man vermochte Dellen nicht im Käfig zu halten. Er konnte sie nur haben, wenn er ihr die Freiheit ließ.

»Du bist der Einzige, den ich wirklich will«, hatte sie immer gesagt. »Verzeih mir, Ben. Du bist derjenige, den ich liebe.«

Bens Atmung normalisierte sich, nachdem er eine Weile oben auf der Klippe abgewartet hatte. Die Seebrise ließ den Schweißfilm auf seiner Haut erkalten, und ihm ging auf, wie spät es schon war. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er sich zu exakt der Stelle abgeseilt haben musste, wo Santo gelegen hatte sterbend oder bereits tot. Und im selben Moment erkannte er, dass er zwar auf dem Pfad von der Straße hierher Santo nachgefolgt war, seine Schlinge an dem alten Steinpfosten befestigt, sich abgeseilt und wieder zum Aufstieg gerüstet hatte, dass er in all der Zeit jedoch kein einziges Mal an ihn gedacht hatte. Nur zu dem Zweck war er doch hierhergekommen; aber er hatte es nicht geschafft. Seine Gedanken waren vollauf mit Dellen beschäftigt gewesen wie immer.

Es erschien ihm wie der ultimative, monströse Verrat. Nicht dass Dellen ihn vor all den Jahren verraten hatte, indem sie einen unbegründeten Verdacht auf ihn gelenkt hatte. Sondern er selbst hatte Santo verraten. Eine Wallfahrt zu dem Ort, wo der Junge sein Leben gelassen hatte, war nicht ausreichend gewesen, um dessen Mutter aus seinem Kopf zu verjagen. Ben lebte und atmete sie, als wäre sie eine ansteckende Krankheit, die nur ihn allein befallen konnte. Versuchte er, auf Abstand zu gehen, war es doch immer so, als wäre sie bei ihm, und das war auch der Grund, warum er immer wieder zurückgekehrt war.

So gesehen war er genauso krank wie sie, dachte er, wenn nicht sogar kränker. Denn während sie nichts daran ändern konnte, wie sie seit jeher gewesen war, wäre er in der Lage gewesen aufzuhören, dieser pervers loyale Benesek zu sein, der es ihr immer viel zu leicht gemacht hatte.

Als er sich von dem Findling erhob, auf dem er gesessen und sich ausgeruht hatte, war sein Körper steif von der kalten Brise. Morgen früh würde er den Preis für den schnellen Aufstieg bezahlen müssen. Er ging zu dem steinernen Pfeiler, um den die Schlinge lag, zog das Seil nach oben, rollte es sorgsam auf und untersuchte es ebenso sorgsam auf Schwachstellen. Selbst dabei konnte er sich nicht auf Santo konzentrieren.

In all dem steckte eine moralische Frage, wusste Ben, aber ihm fehlte der Mut, sie zu stellen.

Daidre Trahair wartete bereits über eine Stunde in der Bar des Salthouse Inn, als Selevan Penrule hereinkam. Er sah sich um, und als er feststellte, dass sein Trinkkumpan nicht wie üblich mit einem Guinness vor sich in der Kaminecke saß, die er und Jago als ihren Stammplatz beanspruchten, trat er zu Daidre an ihrem Fenstertisch.

»Ich dachte, er wäre schon hier«, sagte Selevan ohne Vorrede und zog sich einen Stuhl heran. »Er hat angerufen, um Bescheid zu sagen, dass es ein bisschen später wird. Die Cops waren bei ihm und Lew. Sie reden mit allen und jedem. Mit Ihnen auch schon?«

Brian kam aus der Küche, und die beiden begrüßten sich mit einem Wink. »Das Übliche?«, fragte der Wirt.

»Ja, danke«, gab Selevan zurück, und dann an Daidre gewandt: »Sie haben sogar mit Tammy gesprochen. Nicht weil die Cops ihr hätten Fragen stellen wollen, sondern weil sie ihnen was zu sagen hatte. Na ja, warum hätten sie sie auch verhören sollen? Sie kannte den Jungen, gut, aber das war auch schon alles. Ich hätte es mir anders gewünscht, und daraus mach ich auch kein Geheimnis, aber sie hatte eben kein Interesse. War wohl besser so, wie sich jetzt herausstellt, was? Aber verdammt noch mal, ich wünschte, sie würden die Sache bald aufklären. Tut mir wirklich leid für die Familie.«

Daidre hätte es vorgezogen, der alte Mann wäre nicht an ihren Tisch gekommen, aber ihr fiel partout keine höfliche Formulierung ein, um ihm anzudeuten, dass sie ihre Ruhe wollte. Sie war nie zuvor ins Salthouse Inn gekommen, um Ruhe zu finden, wie also hätte Selevan das erahnen sollen? Das Salthouse Inn war der Ort, wo die Bewohner dieser Gegend sich für ein bisschen Klatsch und Gesellschaft einfanden, nicht zum Meditieren.

»Sie wollen mit mir sprechen«, antwortete sie und schob ihm die Nachricht zu, die sie an der Tür ihres Cottages gefunden hatte: Inckspector Hannafords Visitenkarte mit einer knappen Notiz auf der Rückseite. »Dabei habe ich schon mit ihnen geredet. An dem Tag, als Santo gestorben ist. Ich kann mir nicht erklären, warum sie mich noch einmal vernehmen wollen.«

Selevan betrachtete die Visitenkarte und drehte sie um. »Sieht ernst aus«, sagte er. »Wenn die ihre Karte hinterlässt und so.«

»Ich denke, es liegt eher daran, dass ich kein Telefon habe. Aber ich werde mit ihnen reden. Natürlich werde ich das.«

»Besorgen Sie sich lieber einen Anwalt. Tammy hatte keinen, aber das war, weil sie ihnen was zu erzählen hatte, wie gesagt, nicht umgekehrt. Ist nicht so, als hätte sie was zu verbergen. Sie hatte Informationen, also hat sie sie der Polizei gegeben.« Er neigte den Kopf zur Seite und sah Daidre an. »Und? Haben Sie was zu verbergen, Mädchen?«

Daidre lächelte, nahm dem alten Mann die Visitenkarte aus der Hand und steckte sie wieder ein. »Wir haben alle unsere Geheimnisse, oder etwa nicht? Brauchen wir deswegen gleich alle einen Anwalt?«

»Das hab ich nicht gesagt«, protestierte Selevan. »Aber Sie haben es faustdick hinter den Ohren, Dr. Trahair, das haben wir von Anfang an gewusst. Wenn Sie mich fragen: Keine Frau, die nicht irgendwelche finsteren Geheimnisse hat, spielt Darts wie Sie.«

»Ich fürchte, das dunkelste Geheimnis, das ich zu bieten habe, ist Roller-Derby.«

»Was ist denn das schon wieder?«

Sie tippte ihm mit den Fingerspitzen auf die Hand. »Das werden Sie schon selbst herausfinden müssen, mein Freund.«

Dann sah sie durchs Fenster den Ford über den unebenen Parkplatz des Hotels rumpeln. Lynley stieg aus und kam auf das Haus zu, doch er hielt inne, als ein zweiter Wagen auf den Parkplatz einbog: ein klappriger Mini, dessen Fahrer ihn anhupte, als stünde er im Weg.

Selevan konnte den Parkplatz von seinem Stuhl aus nicht sehen. »Ist das Jago?«, fragte er Daidre, und dann: »Danke, Kumpel«, als Brian ihm einen Glenmorangie hinstellte. Er nahm den ersten Schluck mit sichtlicher Befriedigung.

»Nein…«

Daidre hielt den Blick auf den Parkplatz gerichtet, während Selevan weiter über seine Enkelin sprach. Tammy hatte ihren eigenen Kopf, schien es, und nichts konnte sie von dem Kurs abbringen, den sie eingeschlagen hatte. »Man muss das Mädchen dafür bewundern«, räumte Selevan ein. »Vielleicht sind wir alle zu hart zu ihr gewesen.«

Daidre brummelte an den richtigen Stellen Zustimmung, aber sie konzentrierte sich vollauf auf das Wenige, was sie draußen beobachten konnte. Die Fahrerin des verschrammten Mini hatte Lynley angesprochen. Es handelte sich um eine unförmige Frau in ausgebeulter Kordhose und einer Steppjacke, die sie bis zum Kinn zugeknöpft hatte. Die Unterhaltung dauerte nur einen Moment. Die Frau ruderte ein wenig mit den Armen, was auf eine Debatte bezüglich Lynleys Fahrstil hinzudeuten schien.

Dann bog hinter ihnen Jago Reeths Defender in den Parkplatz ein. »Da kommt Mr. Reeth«, verkündete Daidre.

»Dann geh ich mal lieber unseren Platz reservieren«, erwiderte Selevan, erhob sich und schlenderte zur Kaminecke hinüber.

Daidre sah weiter aus dem Fenster. Lynley und die Frau verstummten, als Jago Reeth aus dem Wagen stieg. Reeth nickte ihnen höflich zu — von einem Pubbesucher zum anderen — und ging auf die Tür zu. Lynley und die Frau wechselten noch ein paar Worte, und dann trennten sie sich.