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Daidre signalisierte Brian, sie wolle den Tee bezahlen, den sie getrunken hatte, um die Wartezeit zu verkürzen. Als sie schließlich den Durchgang zum Hotel betrat, saßen Jago Reeth und Selevan Penrule bereits in ihrer Kaminecke, die Frau vom Parkplatz war verschwunden, und Lynley selbst war offenbar zu seinem Wagen zurückgegangen, um einen verbeulten Pappkarton daraus hervorzuholen. Damit kam er nun ins Gasthaus. Daidre stand an der schlecht beleuchteten Rezeption. Sie fröstelte; hier war es kälter als in der Bar, vermutlich wegen des unebenen Steinfußbodens und weil die Haustür immer wieder offen stand. Ihr ging auf, dass sie ihren Mantel im Schankraum gelassen hatte.

Lynley entdeckte sie sofort. Lächelnd sagte er: »Hallo. Ich habe Ihren Wagen draußen gar nicht gesehen. Wollten Sie mich überraschen?«

»Ihnen auflauern. Was haben Sie denn da?«

Er sah auf den Karton in seinen Armen hinab. »Alte Ermittlungsakten. Oder vielmehr: die Akten eines alten Ermittlers. Na ja, irgendwie beides, schätze ich. Er ist Rentner und lebt unten in Zennor.«

»Sie waren heute in Zennor?«

»Dort und in Newquay. Und in Pengelly Cove. Ich bin heute Morgen bei Ihnen vorbeigefahren und wollte Sie zu dem Ausflug einzuladen, aber Sie waren nicht zu Hause. Haben Sie eine kleine Spritztour gemacht?«

»Ich fahre gern hier in der Gegend herum«, antwortete Daidre und nickte. »Das ist einer der Gründe, warum ich hierherkomme, wann immer ich kann.«

»Verständlich. Ich finde es auch sehr schön.«

Er stützte den Karton auf der Hüfte ab, auf diese männertypische Art — so ganz anders, als Frauen einen sperrigen Gegenstand hielten, dachte sie. Er betrachtete sie. Er sah besser aus als vor vier Tagen. Es war ein schwacher Funke Leben in ihm zu erkennen, der zuvor nicht da gewesen war. Sie fragte sich, ob es etwas damit zu tun hatte, dass er wieder in eine polizeiliche Ermittlung eingebunden war. Vielleicht war das etwas, was einen lebendig machte: die intellektuelle Herausforderung, das Rätsel eines Verbrechens zu lösen, und die physische Erregung der Jagd.

»Sie haben Arbeit zu erledigen.« Sie zeigte auf den Karton. »Ich hatte gehofft, Sie kurz sprechen zu können, falls Sie Zeit haben…«

»Wirklich?« Er zog eine Braue in die Höhe. Und wieder dieses Lächeln. »Natürlich können Sie mich sprechen. Lassen Sie mich das hier eben wegbringen. Wir treffen uns… in der Bar? In fünf Minuten?«

Jetzt da Jago Reeth und Selevan Penrule dort saßen, wollte sie nicht dorthin zurück. Obendrein würden mit jeder Minute weitere Stammgäste eintreffen, und Daidre war nicht sonderlich versessen darauf, dass über ihre vertrauliche Unterhaltung mit dem Detective von Scotland Yard getratscht wurde.

»Mir wäre ein etwas weniger öffentlicher Ort lieber«, gestand sie. »Können wir…?« Abgesehen vom Restaurant, dessen Türen noch verschlossen waren und dies auch für mindestens eine weitere Stunde bleiben würden, gab es nur eine naheliegende Option: sein Zimmer.

Er schien zu demselben Schluss zu gelangen. »Kommen Sie doch mit nach oben«, schlug er vor. »Mein Domizil hier ist zwar ein wenig spartanisch, aber ich kann Ihnen einen Tee anbieten, wenn Sie keine Vorbehalte gegen Teebeutel und diese scheußlichen kleinen Milchdöschen haben. Ich glaube, es gibt sogar Ingwerplätzchen.«

»Ich habe gerade einen Tee getrunken. Aber danke, ja, ich glaube, Ihr Zimmer wäre am besten.«

Sie folgte ihm die Treppe hinauf. Sie war noch nie im Obergeschoss des Salthouse Inn gewesen, und es fühlte sich eigenartig an, jetzt hier zu sein und einem Mann den schmalen Flur entlangzufolgen, als hätten sie ein Stelldichein. Sie hoffte, dass niemand sie sehen und die Situation falsch deuten würde, und dann fragte sie sich, warum sie das hoffte. Was spielte es schon für eine Rolle?

Die Tür war nicht verschlossen. »Es gibt nichts, was irgendjemand würde stehlen wollen«, bemerkte er. Dann trat er zur Seite und ließ ihr höflich den Vortritt.

Spartanisch, erkannte Daidre, war die einzig zutreffende Beschreibung. Das Zimmer war sauber und in hellen Farben gehalten, aber spärlich möbliert. Das Bett war die einzige Sitzgelegenheit, es sei denn, man wollte es mit der kleinen Kommode versuchen. In der winzigen Kammer erschien das Bett riesig, obwohl es nur ein Einzelbett war. Daidre spürte, wie ihr heiß wurde, als sie es betrachtete, also wandte sie den Blick ab.

Nachdem er den Karton behutsam an der Wand abgestellt hatte, trat Lynley auf das Waschbecken in der Ecke zu, hängte seine Jacke auf — Daidre konnte sehen, dass er ein Mann war, der sorgsam mit seiner Kleidung umging — und wusch sich die Hände.

Jetzt da sie hier war, war sie sich ihrer Sache nicht mehr sicher. Statt der Beunruhigung, die sie verspürt hatte, als Cilla Cormack ihr erzählt hatte, dass Scotland Yard sich für sie und ihre Familie in Falmouth interessierte, fühlte sie sich jetzt unbeholfen und schüchtern. Lag es daran, dass Thomas Lynley das Zimmer zu dominieren schien? Er war ein großer Mann, sicher an die eins neunzig. Sich mit ihm zusammen auf so engem Raum zu befinden, führte dazu, dass sie begann, sich wie eine viktorianische Jungfer in einer kompromittierenden Situation zu fühlen. Nicht dass er durch eine Geste, eine Äußerung Anlass geboten hätte. Es war einfach seine Präsenz und die tragische Aura, die ihn umgab trotz seines vermeintlich heiteren Auftretens. Doch allein die Tatsache, dass sie sich anders fühlte, als sie es sich gewünscht hätte, stimmte Daidre ungeduldig, mit sich selbst ebenso wie mit ihm.

Sie streckte ihm Detective Inspector Hannafords Visitenkarte entgegen und setzte sich dann auf die Bettkante. Ja, bemerkte er, Hannaford sei an diesem Morgen kurz nach ihm bei Daidres Cottage angekommen. »Sie sind begehrt«, schmunzelte er.

»Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen.« Das war nicht ganz richtig, aber zumindest ein guter Einstieg, fand sie. »Was soll ich tun?«

Er setzte sich neben sie. »Wegen Hannaford?« Er wies auf die Visitenkarte. »Ich würde Ihnen empfehlen, mit ihr zu reden.«

»Wissen Sie, worum es geht?«

Nein, erwiderte er nach einem entlarvenden Zögern. »Aber was immer es auch sei, ich kann Ihnen nur raten, vollkommen aufrichtig zu sein«, fügte er hinzu. »Es ist immer das Beste, Ermittlern die Wahrheit zu sagen. Eigentlich ist es immer das Beste, die Wahrheit zu sagen.«

»Und wenn die Wahrheit wäre, dass ich Santo Kerne getötet habe?«

Er zauderte wieder, ehe er antwortete: »Ich glaube offen gestanden nicht, dass das die Wahrheit ist.«

»Sind Sie selbst ein aufrichtiger Mensch, Thomas?«

»Ich versuche, es zu sein.«

»Auch mitten in einem Fall?«

»Ganz besonders dann. Wenn es angemessen ist. Im Umgang mit einem Verdächtigen ist es das jedoch nicht immer.«

»Bin ich denn eine Verdächtige?«

»Ja«, eröffnete er ihr. »Leider sind Sie das.«

»Ist das auch der Grund, warum Sie nach Falmouth gefahren sind und Fragen über mich gestellt haben?«

»Falmouth? In Falmouth war ich nicht.«

»Aber irgendjemand war da und hat mit den Nachbarn meiner Eltern gesprochen, wie ich erfahren habe. Jemand von New Scotland Yard. Wer könnte das gewesen sein, wenn nicht Sie? Und was ist es, das Sie über mich in Erfahrung bringen wollen, wonach Sie mich aber nicht direkt fragen konnten?«

Er stand auf, trat an ihr Ende des Bettes und hockte sich vor sie. Das brachte ihn ihr näher, als ihr lieb war, und sie machte Anstalten, sich zu erheben. Er hielt sie zurück, indem er ihr sacht die Hand auf den Arm legte. »Ich war nicht in Falmouth, Daidre«, wiederholte er. »Ich schwöre es Ihnen.«

»Wer dann?«

»Ich weiß es nicht.« Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war ernst und stetig. »Daidre, haben Sie etwas zu verbergen?«