»Ja, ich weiß«, sagte Lynley. »Er hat anscheinend geglaubt, er wüsste, wer seinen Sohn in die Strandhöhle gelockt hat.«
»Genau. Aber er konnte die Polizei nicht dazu bewegen, den Täter einzukassieren. Keine Beweise, haben sie ihm gesagt. Keine Beweise, keine Zeugen, und niemand, der gewillt war zu reden, ganz gleich wie viel Druck sie ausübten… Sie konnten einfach nichts tun. Also heuerte Jon seine eigenen Ermittler an, und als die auch nichts zustande brachten, verpflichtete er andere. Und danach wieder andere und wieder andere. Schließlich ist er ganz dorthin gezogen…« Larson betrachtete ein Foto an der Wand eine Luftaufnahme von Exeter, als könnte ihn das in die Vergangenheit zurückversetzen. »Ich glaube, es war zwei Jahre nach Jamies Tod. Vielleicht drei? Er sagte, er wolle dorthin, um die Menschen daran zu erinnern, dass der Mord — er nannte es immer Mord, ganz gleich was irgendwer sagte — ungesühnt geblieben sei. Er warf der Polizei vor, sie hätte die Sache von vorne bis hinten vermasselt. Er war… besessen, wenn ich ehrlich sein soll. Aber das kann man ihm wohl kaum verübeln. Das habe ich damals nicht getan und tu es auch heute nicht. Aber er brachte der Firma kein Geld mehr ein. Ich hätte ihn eine Zeit lang unterstützen können, aber dann fing er an, Geld zu… Er nannte es "borgen". Er hatte ein Haus hier in Exeter und eine Familie zu unterhalten — er hat noch drei Kinder, allesamt Töchter — und ein Haus in Pengelly Cove, und er verpflichtete eine Ermittlerfirma nach der anderen, die alle für ihre Mühen bezahlt werden wollten. Das ist ihm irgendwann alles über den Kopf gewachsen. Er brauchte Geld und hat es sich genommen.« Larson saß hinter seinem Schreibtisch und faltete die Hände. »Ich habe mich furchtbar gefühlt, aber ich hatte genau zwei Alternativen: Ich konnte dabei zusehen, wie Jon uns in den Ruin führte, oder aber ihn damit konfrontieren, was er tat. Ich habe meine Wahl getroffen. Es war nicht angenehm, glauben Sie mir, aber ich sah keine andere Möglichkeit.«
»Er hat Geld unterschlagen.«
Larson hob beschwichtigend eine Hand. »So weit konnte ich nicht gehen. Konnte und wollte nicht, nicht nach dem, was dem armen Kerl passiert war. Aber ich habe ihm mitgeteilt, er müsse mir seine Anteile überlassen, denn nur so konnte ich die Firma retten. Er hätte nie damit aufgehört.«
»Womit aufgehört?«
»Zu versuchen, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
»Die Polizei glaubt, es sei ein dummer Streich gewesen, der schiefgegangen ist, kein vorsätzlicher Mord.«
»Gut möglich, aber Jon konnte es so nicht betrachten. Er hat diesen Jungen vergöttert. Er hat all seine Kinder geliebt, aber nach Jamie war er schier verrückt. Er war ein Vater, wie wir alle es gern wären und alle gern einen gehabt hätten, wenn Sie wissen, was ich meine. Sie sind zusammen zum Hochseefischen gefahren, in den Skiurlaub, zum Surfen, mit dem Rucksack durch Asien. Wenn Jon den Namen des Jungen aussprach, leuchteten seine Augen vor Stolz.«
»Ich habe gehört, der Junge war…« Lynley suchte nach dem richtigen Wort. »Ich habe gehört, er war schwierig im Umgang mit den anderen Jugendlichen in Pengelly Cove.«
Larson runzelte die Stirn. Seine Brauen waren dünn, beinah fraulich. Lynley fragte sich, ob er sie in Form zupfte. »Dazu kann ich nichts sagen. Er war eigentlich ein guter Junge. Na ja, vielleicht ein bisschen zu sehr von sich eingenommen, wenn man bedenkt, dass seine Familie vermutlich viel mehr Geld hatte als die der Dorfkinder und dass sein Vater ihn immer so offen vorgezogen hat. Aber welcher Junge in dem Alter wäre nicht von sich eingenommen?«
Larson erzählte weiter, und der Fortgang der Geschichte war traurig, aber, wie Lynley wusste, nicht ungewöhnlich für Familien, die das Trauma erlitten hatten, ein Kind zu verlieren. Nicht lange nachdem Parsons die Firma verloren hatte, ließ seine Frau sich von ihm scheiden. Sie ging zurück an die Universität, holte ihren Abschluss nach und wurde schließlich Direktorin einer Gesamtschule. Larson meinte sich zu erinnern, dass sie irgendwann auch wieder geheiratet habe, aber er war sich dessen nicht hundertprozentig sicher. Aber an der Gesamtschule könne man Lynley bestimmt Näheres sagen. »Und was ist aus Jonathan Parsons geworden?«, fragte Lynley. Soweit Larson wusste, war er immer noch in Pengelly Cove. »Und die Töchter?«, fragte Lynley. Larson hatte keine Ahnung.
Daidre hatte den Morgen damit zugebracht, über Loyalitäten nachzudenken. Sie wusste, manche Leute glaubten fest an das Prinzip, dass jeder sich selbst der Nächste war. Doch ihr Problem war seit jeher ihre Unfähigkeit gewesen, an diesem Prinzip festzuhalten.
Sie hatte sich gefragt, was sie anderen schuldete und was sie sich selbst schuldete. Sie hatte über Pflichtgefühl nachgedacht und über Rache. Sie hatte überlegt, inwieweit "jemandem etwas heimzahlen" nur ein fragwürdiger Euphemismus für "nichts dazulernen" war. Sie hatte versucht zu entscheiden, ob man wirklich etwas aus seinen Erfahrungen lernen konnte oder ob das Leben nur ein sinnloses Verstreichen der Jahre war, ohne jede Bedeutung.
Letztlich hatte sie sich der Erkenntnis stellen müssen, dass sie auf die großen philosophischen Fragen des Lebens keine Antworten wusste, und beschlossen, das Nächstliegende zu tun: nach Casvelyn zu fahren und Detective Inspector Hannafords Bitte um ein Gespräch zu folgen.
Hannaford holte sie persönlich am Empfang ab. In ihrem Gefolge befand sich die schlecht gekleidete Fahrerin des Mini, die am Abend zuvor auf dem Parkplatz des Salthouse Inn mit Thomas Lynley gesprochen hatte. Hannaford stellte sie als Detective Sergeant Barbara Hackvers vor. »New Scotland Yard«, fügte sie hinzu, und Daidre verspürte einen eisigen Schauer. Ihr blieb indessen keine Zeit, darüber zu spekulieren, was das bedeuten mochte, denn nach einem andeutungsweise feindseligen »Kommen Sie mit!« von Hannaford wurde sie ins Innere der Polizeiwache geführt. Es war ein kurzer Weg von vielleicht fünfzehn Schritten, der sie in das vermutlich einzige Verhörzimmer der Wache brachte.
Offensichtlich wurden in Casvelyn nicht viele Verhöre durchgeführt. An der Wand stapelten sich Kartons mit Toilettenpapier und Küchenrollen. Auf einem wackligen Klapptisch stand ein Kassettenrekorder mit einer derart dicken Staubschicht, dass man Gemüse darauf hätte säen können. Es gab keine Stühle, nur eine niedrige Trittleiter, aber es blieb ihnen erspart, die Toilettenpapierkartons als Sitzmöbel hernehmen zu müssen. Mit einem wütenden Ausruf in Richtung Treppe befahl Hannaford Sergeant Collins herbei, der ihnen im Nu ein paar unbequeme Plastikstühle herbeischaffte, Batterien für den Rekorder und eine Kassette "Lulu's Greatest Hits" von 1970. Nach all den Jahren musste Lulu jetzt auch noch für polizeiliche Zwecke herhalten.
Daidre hätte gerne gefragt, was es für einen Sinn haben sollte, ihr Gespräch aufzunehmen, aber sie wusste, die Frage hätte man ihr als Arglist ausgelegt. Also setzte sie sich und wartete ab, was als Nächstes passieren würde. Sergeant Havers zog ein eselsohriges Notizbuch aus der Jackentasche. Aus einem Daidre nicht ersichtlichen Grund hatte sie ihre Steppjacke trotz der beinah tropischen Temperatur im Gebäude nicht abgelegt.
Detective Inspector Hannaford erkundigte sich, ob Daidre irgendetwas wünsche, bevor sie anfingen: Kaffee, Tee, Saft, Wasser? Doch Daidre lehnte ab. Alles in Ordnung, sagte sie, und dann rätselte sie, warum sie es genau so formuliert hatte. Denn nichts war in Ordnung. Sie war unruhig, ihre Hände waren fahrig, aber sie war entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen, und es schien nur einen Weg zu geben, dies zu bewerkstelligen: nämlich sogleich in die Offensive zu gehen.
»Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen«, eröffnete sie selbst die Befragung und kramte Hannafords Karte mit der handschriftlichen Notiz auf der Rückseite hervor. »Worüber wollen Sie mit mir reden?«
»Ich hätte gedacht, das wäre offensichtlich. Immerhin stecken wir mitten in einer Mordermittlung«, konterte Hannaford.