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»Also waren Sie lange verheiratet?«

»Fast genau zweiundzwanzig Jahre. Aber ich kannte ihn schon, lange bevor meine erste Ehe geschieden wurde. Wir waren zusammen zur Grundschule gegangen. Ist es nicht seltsam, wie etwas so Simples — zusammen zur Schule gegangen zu sein — die Dinge einfacher macht, wenn man sich später im Leben wiederbegegnet, selbst wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat? Es gab keine Verlegenheit zwischen uns, als wir nach meiner Scheidung von Jon anfingen, miteinander auszugehen.« Sie nahm sich einen Löffel Aioli und reichte die Schüssel dann an ihn weiter. Dann kostete sie den Krabbenkuchen. »Passabel. Was meinen Sie?«

»Ich finde sie ausgezeichnet.«

»Schmeichler! Gut aussehend und gut erzogen, merke ich. Ist Ihre Frau eine gute Köchin?«

»Absolut grässlich!«

»Dann muss sie andere Stärken haben.«

Er dachte an Helen: ihr Lachen, diese unbändige Fröhlichkeit und ihre große Fähigkeit zum Mitgefühl. »Sie hat Hunderte Stärken.«

»Was mangelnde Fähigkeiten in der Küche…«

»… vollkommen irrelevant macht. Es gibt ja glücklicherweise Fastfood.«

»Genau.« Sie lächelte und fügte dann hinzu: »Ich versuche, vom Thema abzulenken, wie Sie vermutlich bemerkt haben. Ist Jon etwas zugestoßen?«

»Wissen Sie, wo er ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe seit Jahren nicht mit ihm gesprochen. Unser ältestes Kind…«

»Jamie.«

»Ah. Sie wissen also Bescheid über Jamie?« Und als Lynley nickte, fuhr sie versonnen fort: »Ich denke, wir alle tragen aus diesem oder jenem Grund irgendwelche Narben aus der Kindheit mit uns herum. Auch Jon hatte welche. Sein Vater war ein harter Mann gewesen, mit fest geformten Vorstellungen, was seine Söhne mit ihrem Leben anfangen sollten. Er hatte beschlossen, sie sollten alle beide Naturwissenschaftler werden. Ich für meinen Teil finde, es ist ziemlich unklug, Kindern ihren Lebensweg vorzuschreiben, aber so war er nun einmal. Leider hatte keiner der Jungen das geringste Interesse an Naturwissenschaften, also haben sie ihn beide enttäuscht, und das hat er sie nie vergessen lassen. Jon war fest entschlossen, unseren Kindern kein solcher Vater zu sein — vor allem Jamie, und ich muss sagen, das ist ihm gelungen. Wir waren beide gute Eltern. Ich bin zu Hause bei den Kindern geblieben, weil er darauf bestanden hat, und ich war durchaus seiner Meinung. Ich glaube, das hat eine wichtige Rolle gespielt. Wir standen unseren Kindern nahe. Und die Kinder standen einander nahe, selbst wenn die Altersunterschiede groß waren. Jedenfalls waren wir ein vertrauter, glücklicher kleiner Verein.«

»Und dann starb Ihr Sohn.«

»Und dann starb Jamie.« Sie legte das Besteck beiseite und faltete die Hände im Schoß. »Jamie war ein wunderbarer Junge. Oh, er hatte seine Macken. Welcher Junge in dem Alter hat die nicht? Aber im Grunde war er ein lieber Kerl. Liebenswert und liebevoll. Und einfach wunderbar zu seinen kleinen Schwestern. Sein Tod hat uns alle in den Grundfesten erschüttert, aber Jon konnte ihn einfach nicht verwinden. Ich dachte, irgendwann würde er es schaffen. Gib ihm Zeit, habe ich mir gesagt. Aber wenn das Leben eines Menschen nur noch vom Tod eines anderen bestimmt wird und es nichts anderes mehr für ihn gibt… Ich musste an die Mädchen denken, verstehen Sie? Und an mich selbst. Ich konnte so nicht länger leben.«

»Wie konnten Sie nicht leben?«

»Es war das Einzige, worüber er sprach, und, soweit ich sagen konnte, das Einzige, woran er dachte. Als hätte Jamies Tod sein Gehirn infiziert und alles aufgefressen, was nicht damit in Verbindung stand.«

»Er war mit der polizeilichen Ermittlung unzufrieden und hat deshalb eine eigene in Auftrag gegeben.«

»Er muss ein halbes Dutzend in Auftrag gegeben haben! Aber es führte zu nichts. Und jedes Mal, wenn eine Untersuchung ergebnislos endete, wurde er ein bisschen verrückter. Natürlich hatte er da auch schon sein Geschäft verloren, unsere Ersparnisse waren dahin, unser Haus ebenfalls, und das hat für ihn natürlich alles nur noch schlimmer gemacht, weil er wusste, dass er die Verantwortung dafür trug. Trotzdem konnte er nicht damit aufhören. Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass es an seiner Trauer und seinem Verlust nichts ändern würde, wenn jemand zur Rechenschaft gezogen würde, aber er glaubte mir nicht. Er war sicher, es würde etwas ändern. So wie die Leute glauben, wenn der Mörder eines geliebten Menschen hingerichtet wird, würde das ihre Trostlosigkeit irgendwie lindern. Aber wie kann es das je? Der Tod eines Mörders macht niemand anderen wieder lebendig, dabei ist es doch das, was wir wollen, aber nie bekommen können.«

»Was wurde nach Ihrer Scheidung aus Jonathan?«

»Während der ersten drei Jahre etwa hat er mich manchmal angerufen. Um mich auf dem Laufenden zu halten, wie er sagte. Natürlich gab es nie nennenswerte Neuigkeiten, aber er musste daran glauben, dass er Fortschritte machte, statt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«

»Und was war die Wahrheit?«

»Er selbst sorgte dafür, dass es immer unwahrscheinlicher wurde, irgendwen, der mit Jamies Tod in Verbindung stand, dazu zu bewegen… umzukippen, würde man wohl sagen. Er sah das Ganze als eine ungeheure Verschwörung, an der ganz Pengelly Cove beteiligt war, er selbst der Außenseiter, sie die konspirative Gemeinschaft, fest entschlossen, die ihren zu schützen.«

»Und Sie sahen es nicht so?«

»Ich wusste nicht, wie ich es sehen sollte. Ich wollte Jon gern unterstützen, und das habe ich zunächst auch versucht, aber für mich ging es eigentlich darum, dass Jamie tot war. Wir hatten ihn verloren — wir alle hatten ihn verloren, und nichts, was Jon tat, hätte je irgendetwas daran geändert. Mein… Ich nehme an, man könnte sagen, mein Fokus lag auf dieser Tatsache, und mir schien fälschlicher- oder richtigerweise, dass das, was Jon tat, verhinderte, dass wir über Jamies Tod hinwegkamen. Wie eine Wunde, an die man immer wieder rührt, sodass sie weiter blutet, statt zu heilen. Und ich war der Ansicht, dass es vor allem dieses Heilen war, das wir alle brauchten.«

»Haben Sie ihn noch mal gesehen? Oder Ihre Töchter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Und heißt das nicht, dass auf die erste Tragödie die nächste folgte? Eines unserer Kinder war auf furchtbare Weise gestorben, aber Jon hat sie alle vier verloren, und zwar sehenden Auges, weil er dem Toten den Vorzug vor den Lebenden gab. Meiner Meinung nach ist das eine noch viel größere Tragödie als der Verlust unseres Sohnes.«

»Manche Menschen können einfach nicht anders auf einen plötzlichen, unerklärlichen Verlust reagieren«, erwiderte Lynley leise.

»Ich nehme an, Sie haben recht. Aber ich glaube, in Jons Fall war es eine bewusste Entscheidung. Gerade weil er sie traf, hat er so weitergelebt, wie er immer schon gelebt hatte: nämlich indem er Jamie den Vorzug vor den anderen gab. Augenblick! Ich zeige Ihnen, was ich meine.«

Sie stand auf, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging ins Wohnzimmer. Lynley sah sie zu einem der Bücherregale hinübergehen und eine Fotografie auswählen. Sie brachte sie zurück in die Küche, reichte sie ihm und sagte: »Manchmal sagen Bilder mehr, als Worte je ausdrücken könnten.«

Es war ein Familienfoto. Eine vielleicht dreißig Jahre jüngere Version von ihr posierte darauf mit Mann und vier hinreißenden Kindern. Es war eine Winterszene — Tiefschnee, eine Hütte und ein Skilift im Hintergrund. Im Vordergrund stand die Familie, die Skier startbereit geschultert, fröhlich und erwartungsvoll. Niamh hielt die Kleinste auf dem Arm, die beiden anderen Töchter klammerten sich lachend an sie, und vielleicht einen Meter entfernt stand Jamie mit seinem Vater. Jonathan Parsons hatte den Arm liebevoll um Jamies Schultern gelegt und zog ihn an sich. Sie lächelten beide.

»So war er«, sagte Niamh. »Es schien nicht so viel auszumachen, denn die Mädchen hatten ja mich. Ich habe mir eingeredet, das wäre normaclass="underline" Vater und Sohn, Mutter und Töchter. Und dass ich doch froh sein könnte, dass Jon und Jamie sich so nahestanden und die Mädchen und ich auch. Aber als Jamie starb, hatte Jon das Gefühl, alles verloren zu haben. Drei Viertel seines Lebens standen direkt vor seiner Nase, aber er konnte sie nicht sehen. Das war seine Tragödie. Und ich wollte sie nicht zu meiner machen.«