Ben nahm von der Bedienung dankend seinen Kaffee entgegen. Er sagte nichts, bis Kerra ihre Cola ebenfalls bekommen hatte. Dann erwiderte er: »Es war nicht wegen deiner Mutter, Kerra. Es gab andere Gründe. Das Surfen hat mich an einen Ort geführt, wo ich lieber nie gewesen wäre.«
»Du meinst Truro?«
Er lächelte. »Ich meine es metaphorisch. In Pengelly Cove war ein Junge ums Leben gekommen, und das hat alles verändert. Das Surfen war daran schuld. Mehr oder weniger.«
»Das hast du gemeint, als du sagtest, es habe dir nichts Gutes eingebracht.«
»Darum war es mir nie recht, wenn Santo surfen ging. Ich wollte nicht, dass er in eine Situation geriet, die ihn in solche Schwierigkeiten hätte bringen können, wie ich sie erlebt habe. Also habe ich mein Möglichstes getan, um es ihm auszureden. Das war nicht richtig von mir, aber so war es nun einmal.« Er blies über die Oberfläche seines Kaffees und nippte daran. Dann fügte er bitter hinzu: »Ja, verdammt noch mal, es war dumm von mir, es zu versuchen. Ich hätte mich in Santos Leben nicht einmischen dürfen, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Er konnte schon selbst auf sich aufpassen.«
»Am Ende nicht«, entgegnete Kerra leise.
»Nein. Am Ende nicht.« Ben drehte die Tasse auf dem Unterteller, den Blick auf die Hände gerichtet. Er schwieg ebenso wie Kerra, während die Beach Boys "Surfer Girl" trällerten. Er ließ die Strophe verstreichen und fragte dann: »Ist das der Grund, warum du mich hierhergeführt hast? Um über Santo zu reden? Wir haben ihn bislang mit keinem Wort erwähnt. Das bedaure ich. Ich konnte nicht über ihn reden, und du musstest den Preis dafür zahlen.«
»Wir alle haben Dinge zu bedauern, was Santo angeht«, erwiderte Kerra. »Aber nicht deswegen wollte ich dich sprechen.« Plötzlich erfüllte ihr Thema sie mit Schüchternheit. Jedes Gespräch über Santo führte dazu, dass sie sich selbst und ihre Motive betrachten und sich unwillkürlich als selbstsüchtig einstufen musste. Andererseits würde das, was sie zu sagen hatte, ihren Vater womöglich aufheitern, und sie sah ihm an, dass er ein wenig Aufmunterung dringend nötig hatte.
»Sondern worüber?«, fragte er. »Keine schlechten Neuigkeiten, hoffe ich. Du willst uns doch nicht verlassen, oder?«
»Nein. Ich meine doch. In gewisser Weise. Alan und ich werden heiraten.«
Einen Moment lang war er reglos, doch ganz allmählich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Wirklich? Das ist ja wunderbar! Er ist ein guter Mann. Wann?«
Sie hätten noch keinen Tag festgesetzt, erklärte sie. Aber irgendwann im Laufe des Jahres. Sie habe noch keinen Ring, aber der werde schon noch kommen. »Alan besteht darauf«, sagte sie. »Er will "eine ordentliche Verlobung" so nennt er es jedenfalls. Du weißt ja, wie er ist. Und…« Sie legte die Hände um ihr Glas. »Er will dich um Erlaubnis bitten, Dad.«
»Im Ernst?«
»Er sagt, er will, dass alles von A bis Z korrekt abläuft. Ich weiß, es ist albern. Heutzutage hält niemand mehr um die Hand einer Tochter an. Aber es ist nun mal das, was er möchte. Wie auch immer. Ich hoffe, du gibst deine Erlaubnis.«
»Warum in aller Welt sollte ich etwas dagegen haben?«
»Na ja…« Kerra wandte den Blick ab. Wie sollte sie es erklären? »Es hätte ja sein können, dass du für das ganze Thema Ehe nicht mehr allzu viel übrig hast. Du weißt schon, was ich meine.«
»Wegen deiner Mutter.«
»Es kann kein leichter Weg für dich gewesen sein. Ich dachte, vielleicht willst du nicht, dass ich ihn auch einschlage.«
Jetzt war es an Ben, Kerras Blick auszuweichen. »Eine Ehe ist immer schwierig, ganz gleich in welcher Situation das Paar sich befindet. Wenn du irgendetwas anderes glaubst, steht dir eine Überraschung bevor.«
»Aber schwierig ist nicht immer gleich schwierig«, wandte Kerra ein. »Unlösbar. Inakzeptabel.«
»Ah. Ja. Ich weiß, dass du das immer gedacht hast: das Warum hinter allem. Diese Frage habe ich in deinem Gesicht gelesen, seit du zwölf warst.«
Ein solches Bedauern lag in seinem Ausdruck, als er das sagte, dass es Kerra schmerzte. Sie erwiderte: »Hast du nie gedacht… Hast du nie gewollt…«
Er berührte ganz sanft ihre Hände. »Deine Mutter hat auch ihre schweren Zeiten gehabt. Das steht außer Frage. Und ihre schweren Zeiten haben in Wahrheit ihren Weg steiniger gemacht als meinen. Darüber hinaus hat sie mir dich geschenkt. Und dafür muss ich ihr dankbar sein, was immer ihre Fehler sein mögen.«
Kerra erkannte, dass der entscheidende Moment gekommen war, als sie ihn am wenigsten erwartet hatte. Sie blickte auf ihre Cola hinab, aber etwas von dem, was sie zu sagen hatte, zeichnete sich wohl in ihren Zügen ab, denn er fragte: »Was ist los, Kerra?«
»Wie kannst du dir da sicher sein?«, wollte sie wissen.
»Ob man den Sprung ins kalte Wasser mit einem Menschen wagen soll? Dessen kann man sich nie sicher sein. Es gibt keinerlei Garantien, welch ein Leben du mit einem anderen Menschen führen wirst, aber an einem gewissen Punkt…«
»Nein, nein. Das meinte ich nicht.« Sie spürte ihr Gesicht heiß werden. Ihre Wangen brannten, und sie wusste, dass sich die Röte bis zu ihren Ohren ausbreitete. »Wie kannst du dir in Bezug auf uns sicher sein?«, fragte sie leise. »Über mich? Wirklich sicher? Weil…«
Er runzelte die Stirn, doch dann weiteten sich seine Augen ein wenig, als ihm aufging, wovon sie sprach.
Mutlos fügte sie hinzu: »Weil sie eben ist, wie sie ist. Ich hatte meine Zweifel, verstehst du. Dann und wann.«
Er stand abrupt auf, und sie glaubte schon, er wollte aus dem Café marschieren, denn er sah zur Tür hinüber. Doch stattdessen sagte er: »Komm mal mit, Kind. Nein, nein, lass deine Sachen nur liegen.« Und er führte sie zur Garderobe, wo in einem Muschelrahmen ein kleiner Spiegel hing. Er schob sie davor, trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. »Schau dir dein Gesicht an. Und dann meines. Mein Gott, Kerra, wer solltest du denn sonst sein als meine Tochter?«
Ihre Augen brannten. Sie blinzelte die Tränen weg. »Und was war mit Santo?«, fragte sie.
Er drückte ihre Schultern, um sie zu beschwichtigen. »Du schlägst mir nach«, antwortete er. »Und Santo hat immer deiner Mutter geglichen.«
Lynley war fast den ganzen Tag unterwegs gewesen, von Exeter bis Boscastle kreuz und quer durch Cornwall, doch schließlich betrat er die Einsatzzentrale in Casvelyn. Detective Inspector Hannaford und Barbara Havers spielten gerade die aufmerksamen Zuhörerinnen für Constable McNulty, der über ein Thema referierte, das ihm sehr am Herzen zu liegen schien. Zu dem Zweck hatte er eine Reihe Fotos auf dem Tisch ausgebreitet. Havers wirkte tatsächlich interessiert. Hannaford lauschte mit einem unmissverständlichen Ausdruck überstrapazierter Duldsamkeit.
»Hier erwischt er die Welle. Es ist ein klasse Foto. Man kann sein Gesicht und die Farbe seines Boards erkennen, sehen Sie? Er ist in einer guten Position, und er hat die nötige Erfahrung. Meistens surft er rund um Hawaii. In der Half Moon Bay ist das Wasser schweinekalt, woran er nicht gewöhnt ist, aber große Wellen kennt er in- und auswendig. Klar hat er Schiss, aber wer hätte das nicht? Wer keinen Schiss hat, muss verrückt sein. Tonnenweise Wasser, und wenn man nicht gerade die letzte Welle einer Serie erwischt, muss man damit rechnen, dass die nächste gleich auf dem Fuße folgt und einen womöglich vom Brett fegt. Und diese nachfolgende Welle hält einen dann unten und zieht einen in die Tiefe. Man ist also gut beraten, Schiss und vor allem Respekt zu haben.« Er tippte auf das nächste Foto. »Sehen Sie sich den Winkel an. Hier macht er den Fehler. Er weiß, dass er stürzt, und fragt sich, wie schlimm es wohl werden wird… was Sie hier auf dem nächsten Bild sehen. Er ist geradewegs in die Wellenwand geknallt. Gott allein weiß, welches Tempo er draufhat und das Wasser schließlich genauso. Also, was passiert bei dem Aufprall? Wird er sich ein paar Rippen brechen? Wird es ihm die Luft aus den Lungen pressen? Er hat es nicht mehr in der Hand, denn jetzt ist er oben am Wellenscheitel, der beginnt, sich zu brechen. Das ist wirklich das Allerletzte, was ein Surfer sich bei einer Mavericks-Welle wünscht. Hier. Da kann man ihn so gerade eben noch erkennen.«