»Und Sie glauben, Sie wären in der Verfassung, solch eine Entscheidung zu treffen?«, erkundigte sich Hannaford.
»Ich bin nicht blind«, gab er zurück. »Und ich habe auch nicht den Verstand verloren.«
»Aber Sie haben Ihre Frau verloren«, erwiderte Hannaford. »Wie wollen Sie nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, erwarten, dass Sie klar denken, klar sehen oder sonst irgendetwas klar tun können?«
Lynley wich zurück, aber nur einen Schritt. Er wollte diese Konversation beenden, und dies schien ihm der beste Weg, das zu erreichen. Er spürte Havers' Blick auf sich. Er wusste, er würde irgendetwas erwidern müssen, ehe sie es an seiner Stelle tat; das wäre ihm unerträglich gewesen. »Ich habe keine Fakten vor Ihnen verheimlicht, Inspector«, sagte er. »Ich wollte lediglich mehr Zeit.«
»Wofür?«
»Für etwas wie das hier, nehme ich an.« Er hielt einen großen Umschlag in der Hand, aus dem er nun das Foto entnahm, das er aus Boscastle mitgebracht hatte. Er reichte es ihr.
Hannaford betrachtete es. »Wer sind diese Leute?«
»Eine Familie namens Parsons. Der Sohn der Junge auf dem Bild starb vor etwa dreißig Jahren in einer Strandhöhle in Pengelly Cove. Das Foto entstand in etwa zu der Zeit; höchstens ein, zwei Jahre eher. Niamh ist die Mutter, Jonathan der Vater. Der Junge ist Jamie, die Mädchen seine jüngeren Schwestern. Ich würde an dem Bild gern eine digitale Altersprogression vornehmen lassen. Gibt es hier jemanden, der das kurzfristig ausführen könnte?«
»Eine Altersprogression von wem genau?«, fragte Detective Inspector Hannaford.
»Von allen«, antwortete Lynley.
Daidre hatte den Wagen an der Lansdown Road abgestellt. Sie wusste, es sah nicht gut aus, so nah bei der Polizeiwache zu parken, aber sie musste ihn sehen, und gleichzeitig brauchte sie ein Zeichen, das ihr sagte, wie sie weiter vorgehen sollte. Wahrheit bedeutete Vertrauen, sogar blindes Vertrauen. Aber dieses blinde Vertrauen konnte sie geradewegs in den tödlichen Treibsand des Verrats führen, und davon hatte sie in ihrem Leben weiß Gott genug gesehen.
Im Rückspiegel sah sie sie aus der Polizeiwache kommen. Wäre Lynley allein gewesen, wäre sie ihm vielleicht hinterhergelaufen, um mit ihm die Unterhaltung zu führen, die sie dringend führen mussten. Da aber sowohl Detective Inspector Hannaford als auch Detective Sergeant Havers in seiner Begleitung waren, wertete Daidre dies als Zeichen, dass der Zeitpunkt nicht der richtige war. Sie hatte ein Stück weit die Straße hinauf geparkt, und als die drei Beamten auf dem Parkplatz der Polizeiwache stehen blieben, um noch ein paar Worte zu wechseln, startete sie den Motor und fuhr an. In ihr Gespräch vertieft, sah keiner der drei ihr nach. Auch das wertete Daidre als Zeichen. Manche hätten sie einen Feigling genannt, wusste sie, weil sie jetzt davonlief. Andere hätten ihr jedoch zu ihrem gesunden Selbsterhaltungsinstinkt gratuliert.
Sie verließ Casvelyn, fuhr landeinwärts, erst in Richtung Stratton, dann quer über Land. Schließlich hielt sie im rasch schwindenden Abendlicht vor der Ciderfarm.
Die Umstände bewogen sie zu vergeben. Aber Vergebung funktionierte in beide Richtungen, oder, genauer betrachtet, in alle Richtungen. Sie musste sie erbitten ebenso wie erteilen. Und für beides brauchte man Übung.
Stamos wühlte in seinem Pferch in der Hofmitte. Daidre ging an ihm vorüber und umrundete die Marmeladenküche, wo zwei Angestellte unter grellem Neonlicht riesige Kupfertöpfe schrubbten.
Sie öffnete das Tor unter dem Laubengang und betrat den privaten Teil des Geländes. Wie beim letzten Mal hörte sie Gitarrenmusik. Aber heute spielte mehr als ein Instrument.
Eine CD, nahm sie an und klopfte an die Tür. Die Musik verstummte. Als Aldara öffnete, erkannte Daidre, dass sie nicht allein war. Ein südländisch aussehender Mann von vielleicht Mitte dreißig stellte gerade eine Gitarre auf den Ständer. Aldara trug ihre unter dem Arm. Offenbar hatten sie und der Mann zusammen gespielt.
»Daidre«, sagte Aldara, ohne ihre Gefühle zu erkennen zu geben. »Was für eine Überraschung. Narno gibt mir gerade Unterricht. Narno Rojas«, fügte sie hinzu. »Aus Launceston.« Der Spanier erhob sich und neigte höflich den Kopf. Daidre sagte Hallo und fragte, ob sie ein andermal wiederkommen solle. »Wenn ihr mitten in der Stunde seid…«, fügte sie hinzu. Was sie allerdings dachte, war: Typisch Aldara, einen so gut aussehenden Gitarrenlehrer gefunden zu haben. Seine Augen waren so groß und die Wimpern so dicht wie bei einem Helden aus einem Disney-Comic.
»Nein, nein, wir sind fertig«, versicherte Aldara. »Wir haben nur noch ein bisschen zum Spaß gespielt. Hast du uns gehört? Wir sind richtig gut zusammen, findest du nicht?«
»Ich dachte wirklich, es wäre eine Aufnahme«, gestand Daidre.
»Siehst du?«, rief Aldara aus. »Narno, wir müssen einfach zusammen spielen! Mit dir bin ich viel besser als allein.« Und an Daidre gewandt: »Es ist so großzügig von ihm, dass er mir Stunden gibt! Ich habe ihm aber auch ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte, und hier sind wir. Stimmt's nicht, Narno?«
»Absolut«, erwiderte er. »Du hast großes Talent. Für mich ist es eine gute Übung. Und für dich… Du brauchst lediglich ein wenig Ermutigung.«
»Schmeichler! Aber wenn du es glauben willst, werde ich dir nicht widersprechen. Aber auf jeden Fall ist genau das deine Rolle: Du bist meine Ermutigung, und ich liebe es, wie du mich ermutigst.«
Er lachte leise, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Ein Trauring aus Weißgold steckte an seinem Finger.
Dann packte er seine Gitarre in den Koffer und verabschiedete sich. Aldara brachte ihn bis vor die Tür, wo sie noch kurz murmelnd miteinander sprachen. Schließlich kam sie zu Daidre zurück.
Sie sieht aus wie eine Katze, die eine nie versiegende Sahnequelle gefunden hat, dachte Daidre und sagte: »Ich kann mir schon vorstellen, wie dein Angebot lautete.«
Aldara packte ihre eigene Gitarre ebenfalls weg. »Welches Angebot meinst du?«
»Das, welches er nicht ablehnen konnte.«
»Ah.« Aldara lachte. »Nun ja. Was sein muss, muss sein. Ich habe allerhand zu tun, Daidre. Wir können uns dabei unterhalten. Komm mit, wenn du magst.«
Sie ging voraus zu einer Treppe, an der eine dicke Samtkordel als Geländer diente. Aldara führte Daidre nach oben ins Schlafzimmer und begann, die Laken eines riesigen Bettes abzuziehen, das fast den gesamten Raum einnahm.
»Du denkst sehr schlecht von mir«, stellte Aldara fest.
»Spielt es eine Rolle, was ich denke?«
»Natürlich nicht. Wie weise du bist. Aber manchmal stimmt das, was du denkst, nicht mit der Wirklichkeit überein.« Sie warf die Bettdecke auf den Boden, riss die Laken von der Matratze und faltete sie sorgsam zusammen, statt sie einfach aufzurollen, wie jemand anderes es vielleicht getan hätte. Dann ging sie zu einem eingebauten Wäscheschrank in der winzigen Diele am oberen Treppenabsatz und holte frisches Bettzeug daraus hervor, das teuer aussah und herrlich duftete. »Unser Arrangement ist nicht sexueller Natur, Daidre«, sagte Aldara.
»Ich habe auch nicht gedacht…«
»Doch, natürlich. Und wie könnte man dir daraus einen Vorwurf machen? Schließlich kennst du mich. Hier, hilf mir mal, sei so gut!«
Daidre kam einen Schritt näher. Aldaras Bewegungen waren sparsam. Liebevoll strich sie die Laken glatt. »Sind sie nicht hübsch?«, fragte sie. »Aus Italien. Ich habe eine hervorragende kleine Wäscherei in Morwenstow gefunden. Es ist ein gutes Stück zu fahren, aber die Frau dort vollbringt Wunder mit der Wäsche, und meine Bettwäsche vertraue ich nicht dem Erstbesten an. Sie ist zu kostbar, wenn du weißt, was ich meine.«
Daidre wollte es gar nicht wissen. Für sie war Bettwäsche einfach nur Bettwäsche, auch wenn sie sehen konnte, dass diese hier vermutlich mehr gekostet hatte, als sie in einem Monat verdiente. Aldara war keine Frau, die sich ein bisschen Luxus hier und da versagte.