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Mit einem Ruck fuhr sie an, holperte über den unebenen Parkplatz und bog in die schmale Landstraße ein. Es war eine lange Fahrt, aber sie sprachen nicht. Daidre schaltete das Radio ein. Sie hörten die Nachrichten, ein langweiliges Interview mit einem eingebildeten, näselnden Schriftsteller, der ganz offensichtlich auf den Booker Prize spekulierte, dann eine Diskussion über gentechnisch verändertes Getreide. Schließlich bat Daidre ihn, eine CD aus dem Handschuhfach zu suchen, was er bereitwillig tat. Er griff wahllos hinein, und so lauschten sie schließlich den Chieftains. Daidre drehte die Musik lauter.

Sie umfuhr die Innenstadt von Redruth und folgte den Schildern in Richtung Falmouth. Das beunruhigte ihn mitnichten, aber er warf ihr einen Blick zu. Sie erwiderte ihn nicht. Ihre Kiefermuskeln waren angespannt, aber ihre Miene wirkte ergeben. Sie sah aus wie jemand, der die letzte, aussichtslose Runde eines Wettkampfs bestritt. Unerwartet verspürte er einen Stich des Bedauerns, ohne dass er hätte sagen können, was genau er bedauerte.

Kurz hinter Redruth bog sie in eine Nebenstraße ein, bald in eine weitere, die kaum mehr war als ein Feldweg von der Sorte, die zwei oder drei Weiler miteinander verband. Ein Hinweisschild wies in Richtung Carnkie, doch statt der Straße zu folgen, hielt Daidre an einer Einmündung, einem dreieckigen Fleckchen Erde, wo man stehen bleiben konnte, um die Straßenkarte zu konsultieren. Er rechnete damit, dass sie genau das tun würde; ihm kam es so vor, als wären sie mitten im Nirgendwo: ein Erdwall, teilweise von Steinen gestützt, jenseits davon offenes Gelände, auf dem hier und da riesige Findlinge verstreut lagen. In der Ferne erhob sich ein Farmhaus aus unverputztem Granit. Schafe ästen Kreuzkraut, Vogelmiere und das struppige Gras, das hier wuchs.

»Beschreiben Sie mir das Zimmer, in dem Sie zur Welt gekommen sind, Thomas.«

Es war eine höchst seltsame Bitte, fand er. »Warum interessiert Sie das?«

»Ich möchte es mir gerne vorstellen, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie haben erzählt, dass Sie zu Hause zur Welt gekommen sind, nicht im Krankenhaus. Auf dem Familiensitz. Ich frage mich, was für ein Familiensitz das wohl ist. Wurden Sie im Schlafzimmer Ihrer Eltern geboren? Hatten sie überhaupt ein gemeinsames Schlafzimmer? Hat man das in Ihren Kreisen?«

In Ihren Kreisen. Hiermit hatte sie eine scharfe Grenze gezogen. Es war ein eigenartiger Moment, um die Verzweiflung zu spüren, die ihn in anderen Situationen immer wieder überfallen hatte: jedes Mal, wenn er daran erinnert wurde, dass manche Dinge sich auch in der sich stetig wandelnden Welt niemals änderten. Vor allem diese Dinge.

Er löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und stieg aus. Dann ging er zu dem Erdwall hinüber. Der Wind war frisch und wehte das Blöken der Schafe und den Duft eines Holzfeuers herbei.

In seinem Rücken hörte Lynley, wie die Fahrertür geöffnet wurde. Gleich darauf stand Daidre an seiner Seite.

»Meine Frau hat sich klipp und klar geäußert, als wir heirateten: "Nur für den Fall, dass du damit liebäugelst: Es wird diesen Unsinn mit getrennten Schlafzimmern nicht geben. Keine heimlichen nächtlichen Besuche dreimal die Woche zum Vollzug der Ehe, Tommy. Wir vollziehen, wann und wo wir wollen, und wenn wir abends einschlafen, dann zusammen."« Er lächelte. Er blickte zu den Schafen hinüber und über das offene Land, das sich in sanften Hügeln bis zum Horizont erstreckte. »Es ist ein ziemlich großes Zimmer. Zwei Fenster mit tiefen Laibungen hinaus zum Rosengarten. Es gibt einen Kamin, der im Winter noch beheizt wird, denn trotz Zentralheizung ist es unmöglich, derlei Häuser wirklich warm zu bekommen. Davor eine Sitzgruppe. Das Bett steht den Fenstern gegenüber. Es ist ebenfalls groß und mit üppigen Schnitzereien verziert; italienisch. Die Wände sind blassgrün. Über dem Kamin hängt ein Spiegel in einem schweren Goldrahmen, daneben an der Wand eine Miniaturensammlung. Auf einem halbrunden Tisch zwischen den Fenstern steht eine Porzellanschale, und an den Wänden hängen Porträts. Und zwei französische Landschaften. Familienfotos auf Beistelltischen. Das ist alles.«

»Es klingt sehr eindrucksvoll.«

»Es ist eher behaglich als eindrucksvoll. Keine Konkurrenz für Chatsworth.«

»Es klingt… angemessen für jemanden Ihres Kalibers.«

»Es ist nur der Raum, in dem ich zur Welt gekommen bin, Daidre. Warum wollten Sie das wissen?«

Sie wandte den Kopf ab. Ihr Blick streifte über die gesamte Umgebung: den Erdwall, die Steine, die Findlinge auf der Wiese, die Stelle, an der sie geparkt hatten. »Weil ich hier zur Welt gekommen bin«, antwortete sie schließlich.

»In dem Farmhaus dort drüben?«

»Nein. Hier, Thomas. Auf diesem… na ja, wie immer man es nennen will. Hier.« Sie ging zu einem der Steine, und Lynley sah sie eine Postkarte darunter hervorziehen. Sie kam zurück und überreichte sie ihm. »Sagten Sie nicht, Howenstow sei ein Barockbau?«

»Teilweise, ja.«

»Wusst ich's doch. Nun, was ich hatte, war ein wenig bescheidener. Sehen Sie selbst.«

Die Postkarte zeigte einen Zigeunerwagen. Er war von der Sorte, die früher die Landschaft mit einem Hauch von Romaromantik bereichert hatte. Der Wagen selbst war leuchtend rot, das gewölbte Dach grün, die Radspeichen gelb. Er betrachtete das Bild. Da Daidre sichtlich nicht von Zigeunern abstammte, mussten ihre Eltern wohl Ferien in solch einem Wagen gemacht haben. Touristen hatten das in Cornwall häufig getan, einen Wagen gemietet und Zigeuner gespielt.

Daidre schien seine Gedanken zu lesen. »Leider verbirgt sich keinerlei Romantik dahinter, fürchte ich. Keine vorzeitigen Wehen während der Ferien, keine Roma in meiner Familie. Meine Eltern sind fahrendes Volk, Thomas. Das waren schon ihre Eltern. Meine Tanten und Onkel, soweit vorhanden, sind ebenfalls fahrendes Volk, und das hier ist die Stelle, wo unser Wagen stand, als ich zur Welt kam. Nur war unsere Behausung leider nie so pittoresk wie das hier«, fügte sie mit einer Geste auf die Postkarte hinzu. »Der Wagen war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden. Ansonsten sah er ganz ähnlich aus. Ein bisschen anders als Howenstow, finden Sie nicht?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht einmal, ob er ihr glaubte.

»Die Verhältnisse waren… Man sagt wohl, sie waren etwas beengt. Erst als ich acht Jahre alt war, wurde es etwas besser. Vorher lebten wir zu fünft zusammengepfercht. Ich, meine Eltern und die Zwillinge.«

»Die Zwillinge?«

»Mein Bruder und meine Schwester. Sie sind drei Jahre jünger als ich. Und kein Einziger von uns ist in Falmouth geboren.«

»Also sind Sie nicht Daidre Trahair?«

»In gewisser Weise schon.«

»Das verstehe ich nicht. In gewisser Weise? In welcher Weise?«

»Möchten Sie mein wahres Ich kennenlernen?«

»Ich schätze schon.«

Sie nickte. Sie hatte ihn unverwandt angesehen, seit er von der Postkarte aufgeblickt hatte. Es schien, als versuche sie, seine Reaktion einzuschätzen. Was immer sie in seiner Miene las, beschwichtigte sie entweder oder führte ihr vor Augen, dass die Zeit für Versteckspiele vorüber war.

»In Ordnung«, sagte sie. »Kommen Sie, Thomas. Es gibt noch viel mehr zu sehen.«

Als Kerra aus dem Büro kam, um Alan bei einer der Bewerbungen um Rat zu fragen, fiel sie aus allen Wolken, als sie Madlyn Angarrack in der Rezeption stehen sah. Madlyn war allein und trug die Uniform der Bäckerei, sodass Kerra für den Bruchteil einer Sekunde meinte, sie wäre gekommen, um eine Bestellung auszuliefern. Unwillkürlich blickte sie zum Rezeptionstresen und suchte nach einer Schachtel mit der Aufschrift "Casvelyn of Cornwall".

Da jedoch nichts dergleichen zu entdecken war, zögerte sie. Es musste einen anderen Grund für Madlyns Besuch geben, und Kerra nahm an, dieser Grund hatte mit ihr selbst zu tun. Sie wollte nicht schon wieder mit Madlyn streiten. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie das inzwischen hinter sich gelassen.