»Es ist nur… Will Mendick kam gestern Abend vorbei. Du kennst ihn doch?«
»Den Typen vom Supermarkt? Ich weiß, wer er ist. Was ist mit ihm?«
»Er dachte… Ich hatte mit ihm gesprochen, verstehst du. Wie gesagt. Er war einer der Leute, denen ich von Santo erzählt hatte und davon, was passiert war. Nicht alles, aber genug. Und Will…« Aus irgendeinem Grund schien Madlyn den Satz nicht beenden zu können. Sie knetete den Saum ihrer Schürze mit beiden Händen und wirkte zutiefst verzweifelt. »Ich wusste nicht, dass er auf mich steht«, flüsterte sie.
»Willst du damit sagen, er hat Santo etwas angetan, weil er auf dich steht? Um… es Santo an deiner Stelle heimzuzahlen?«
»Er hat gesagt, er hätte ihm eine Lektion erteilt. Er… Ich glaube nicht, dass er mehr getan hat als das.«
»Er und Santo hatten öfter miteinander zu tun. Es wäre nicht schwierig für Will gewesen, an Santos Kletterausrüstung heranzukommen, Madlyn.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich… Das würde er nicht tun!«
»Hast du der Polizei davon erzählt?«
»Ich weiß es doch erst seit gestern Abend! Und selbst wenn ich's gewusst hätte… Wenn ich geahnt hätte, dass er so etwas plant oder auch nur daran denkt… Ich wollte nicht, dass Santo etwas passiert! Ich wollte höchstens, dass er verletzt wird, nicht körperlich, verstehst du, sondern seine Gefühle, so wie er meine Gefühle verletzt hat. Aber jetzt habe ich Angst…« Sie hatte ihre Schürze furchtbar zugerichtet, hatte sie zusammengedrückt und hoffnungslos verknittert. Casvelyn of Cornwall würde alles andere als glücklich darüber sein.
»Du denkst, Will Mendick hat ihn für dich umgebracht«, stellte Kerra fest.
»Irgendjemand. Vielleicht. Aber das wollte ich nicht! Ich habe niemanden gebeten… Ich habe nie gesagt…«
Endlich wurde Kerra klar, warum das Mädchen zu ihr gekommen war. Und mit dieser Erkenntnis begriff sie auch endlich, wer Madlyn eigentlich war. Vielleicht war es Alan, der diese grundlegende Veränderung in ihrem Innern herbeigeführt hatte; sie wusste es nicht. Aber ihre Gefühle Madlyn gegenüber hatten sich verändert, und sie war endlich in der Lage, die Dinge aus Madlyns Perspektive zu betrachten. Kerra stand auf und setzte sich neben sie. Sie erwog, ihre Hand zu ergreifen, tat es dann aber doch nicht. Das käme zu plötzlich, fand sie. Zu früh.
»Madlyn«, sagte sie schließlich, »du musst mir jetzt mal zuhören. Ich glaube nicht, dass du irgendetwas damit zu tun hast, was Santo passiert ist. Es hat eine Zeit gegeben, da ich so etwas hätte glauben können, es vielleicht sogar geglaubt habe, aber das entsprach nicht den Tatsachen. Verstehst du? Was Santo passiert ist, war nicht deine Schuld.«
»Aber ich habe den anderen gesagt…«
»Was du eben gesagt hast. Ich bezweifle allerdings, dass du je gesagt hast, du wolltest seinen Tod.«
Madlyn fing an zu weinen. Ob angestaute Trauer oder Erleichterung der Grund dafür war, konnte Kerra nicht ausmachen.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Madlyn.
»Hundertprozentig.«
In der Kaminecke des Salthouse Inn wartete Selevan auf Jago Reeth, und er schäumte vor Wut, was ungewöhnlich für ihn war. Er hatte seinen Kumpel bei LiquidEarth angerufen und gefragt, ob sie sich früher als sonst im Salthouse Inn treffen könnten. Er müsse dringend mit ihm reden. Jago hatte bereitwillig zugestimmt und noch nicht einmal gefragt, ob sie das nicht am Telefon besprechen könnten. Vielmehr hatte er gesagt: »Klar doch. Dafür hat man doch Kumpel, oder?« Er müsse nur schnell Lew Bescheid geben und werde dann gleich losfahren. Lew sei ein einsichtiger Kerl, wenn es um Notlagen ging. Also werde er in rund einer halben Stunde dort sein.
Das hieß zwar, dass Selevan würde warten müssen, was ihm nicht recht war, aber er konnte von Jago ja keine Wunder erwarten. LiquidEarth lag ein gutes Stück vom Salthouse Inn entfernt, und Jago konnte sich schließlich nicht hierherbeamen. Also hatte Selevan erledigt, was er in Sea Dreams noch zu erledigen hatte, den Wagen für die anstehende Reise gepackt und war dann zum Salthouse Inn gefahren.
Er wusste, er hatte alles getan, was er konnte, und es war an der Zeit, zum Ende zu kommen. Also war er in Tammys winziges, vollgestopftes Schlafzimmer gegangen und hatte den Rucksack aus dem Schrank gezogen, mit dem sie aus Afrika gekommen war. Damals hatte sie ihn eigentlich schon nicht gebraucht, und heute brauchte sie ihn erst recht nicht mehr, weil ihre Habseligkeiten nicht zahlreich, aber umso armseliger waren. Es dauerte also nur einen Moment, sie aus der Kommode zu räumen: ein paar Unterhosen altmodischen Zuschnitts, den eine alte Dame vielleicht ansprechend gefunden hätte, ein paar Nylonstrumpfhosen, vier Unterhemden, denn das Mädchen war so flach, dass es nicht einmal einen BH brauchte, zwei Pullover und ein paar Röcke. Hosen besaß sie keine. Tammy mochte keine Hosen. Alles war schwarz, bis auf die Unterwäsche.
Dann hatte er ihre Bücher eingepackt, hauptsächlich philosophische Werke und einige Heiligengeschichten. Tagebücher hatte sie ebenfalls. Deren Inhalt war das Einzige, was Selevan nicht überwacht hatte, und darauf war er stolz, denn Tammy hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu verstecken. Trotz der anderslautenden Wünsche ihrer Eltern hatte er es nicht fertiggebracht, in ihren Mädchenträumen und -fantasien zu lesen.
Bis auf ein paar wenige Toilettenartikel, die Kleider, die sie am Leibe trug, und den Inhalt ihrer Schultertasche besaß sie weiter nichts. Ihren Pass hatte er ihr bereits bei der Ankunft abgeknöpft. »Und lass sie ja nicht den Pass behalten«, hatte Tammys Vater ihn aus Afrika instruiert, nachdem er sie in den Flieger gesetzt hatte. »Sonst ist damit zu rechnen, dass sie wegläuft.«
Sollte sie ihren Pass doch zurücknehmen, hatte Selevan beschlossen und wollte ihn schon aus seinem Versteck zwischen Korbgeflecht und Futterstoff der Wäschetonne holen. Doch er war nicht dort. Sie musste ihn gleich zu Anfang gefunden haben, ging ihm auf. Das Früchtchen hatte ihn vermutlich die ganze Zeit bei sich getragen, und zwar irgendwo am Körper, denn er hatte ihre Tasche ja regelmäßig nach verbotenen Gegenständen durchsucht. Nun ja, sie war allen anderen ja immer um eine Nasenlänge voraus gewesen, wen wunderte es da schon.
Selevan hatte an diesem Tag einen letzten Versuch unternommen, ihren Eltern die Augen zu öffnen. Trotz der Kosten und der Tatsache, dass er es sich eigentlich nicht leisten konnte, hatte er Sally Joy und David in Afrika angerufen und ihnen in Sachen Tammy auf den Zahn gefühlt. Er hatte zu seinem Sohn gesagt: »Hör zu, mein Junge, früher oder später müssen Kinder ihren eigenen Weg gehen. Mal angenommen, sie hätte beschlossen, sich in irgendeinen Taugenichts zu verlieben. Was immer du dagegen sagst, je öfter du ihr verbietest, ihn zu treffen, umso mehr will sie es. Das ist ganz einfaches Psycho-Dingsda, wie heißt es gleich wieder? Nicht mehr und nicht weniger.«
»Sie hat dich auf ihre Seite gezogen, ja?«, hatte David entrüstet gefragt, und im Hintergrund hörte Selevan Sally Joy jammern: »Was? Was ist passiert? Ist das dein Vater? Was hat sie getan?«
»Ich sage doch gar nicht, dass sie irgendetwas getan hat«, entgegnete Selevan.
Aber David fuhr fort, als hätte er ihn gar nicht gehört: »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie das schafft, wenn ich an früher denke. Deine eigenen Kinder haben dich jedenfalls nie von ihrem Standpunkt überzeugen können.«
»Das reicht, Junge. Ich gebe zu, dass ich bei euch Fehler gemacht habe. Aber Tatsache ist doch, ihr habt euch ein Leben aufgebaut, und es ist kein schlechtes, oder etwa doch? Und das Mädchen will nichts anderes.«
»Sie weiß doch gar nicht, was sie will! Guck mal, möchtest du eine Beziehung zu Tammy oder nicht? Denn wenn du ihr in dieser Sache nicht entgegenwirkst, wirst du keine Beziehung zu ihr aufbauen können, das sag ich dir.«
»Und indem ich ihr entgegenwirke, werde ich erst recht keine Beziehung zu ihr aufbauen. Also, was soll ich deiner Meinung nach tun, Junge?«