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»Ich will, dass wenigstens du Vernunft an den Tag legst etwas, was Tammy offensichtlich verloren hat. Ich will, dass du ihr ein Vorbild bist.«

»Ein Vorbild? Wovon redest du eigentlich? Was für ein Vorbild könnte ich für ein siebzehnjähriges Mädchen schon sein? Das ist doch völliger Blödsinn.«

Und so war es weiter- und immer weitergegangen. Aber Selevan war es nicht gelungen, seinen Sohn zu überzeugen. David sah einfach nicht ein, wie schlau Tammy war: Nach England geschickt zu werden, hatte das Mädchen keinen Zoll von seinem Weg abgebracht. Sie konnten Tammy genauso gut zum Nordpol schicken, aber letzten Endes würde sie immer eine Möglichkeit finden, so zu leben, wie sie wollte.

»Dann schick sie nach Hause«, hatte David zum Abschied gesagt. Ehe er auflegte, hörte Selevan Sally Joy im Hintergrund rufen: »Aber was sollen wir denn mit ihr machen, David?« Selevan hatte das alles mit einem »Pah!« abgetan und dann angefangen, Tammys Sachen zu packen.

Und am Ende hatte er Jago angerufen. Er würde Tammy ein letztes Mal vom Clean-Barrel-Surfshop abholen, und er wollte irgendjemandes Segen dafür. Jago schien dafür der beste Kandidat zu sein.

Es war Selevan nicht recht gewesen, Jago von der Arbeit wegzulocken. Andererseits hatte er sich gesagt, irgendwie müsse er Jago doch Bescheid geben, dass er ihn nicht länger zur gewohnten Stunde würde treffen können. Doch jetzt wartete er und merkte, wie er zusehends nervös wurde. Er brauchte jemanden auf seiner Seite. Das Nervenflattern würde so lange bleiben, bis dieser Jemand sich dort eingefunden hatte.

Als Jago endlich eintrat, winkte Selevan ihm erleichtert zu. Jago blieb einen Moment an der Bar stehen, um ein paar Worte mit Brian zu wechseln, und dann kam er herüber, immer noch in seiner Jacke und die Strickmütze über das lange graue Haar gezogen. Er legte Jacke und Mütze ab und rieb sich die Hände, während er den Hocker hervorzog, der Selevans Bank gegenüberstand. Das Feuer brannte noch nicht — dafür war es noch zu früh, und sie waren die einzigen Gäste, und Jago fragte Brian über die Schulter, ob er es wohl anzünden dürfe. Brian nickte, und Jago hielt ein Streichholz an den Zunder. Dann blies er in die kleinen Flämmchen, bis das Feuer in Gang kam. Schließlich kam er zu ihrem Tisch zurück. Er dankte Brian, als der ihm sein Guinness brachte, und nahm einen Schluck.

»Was ist denn nun los, Kumpel?«, fragte er Selevan. »Du siehst ganz schön mitgenommen aus.«

»Ich fahre weg«, antwortete Selevan. »Für ein paar Tage oder sogar ein bisschen länger.«

»Wirklich? Wohin?«

»Nach Norden. Nicht weit von der Grenze.«

»Was? Wales?«

»Schottland.«

Jago pfiff vor sich hin. »Das ist ein gutes Stück zu fahren. Willst du, dass ich hier nach dem Rechten sehe? Und auf Tammy achtgebe?«

»Ich nehme Tammy mit«, antwortete Selevan. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe alles in die Wege geleitet. Jetzt brechen wir auf. Wird Zeit, dass das Mädchen die Gelegenheit bekommt, das Leben zu führen, das es sich wünscht.«

»Das ist wahr«, stimmte Jago zu. »Ich werde selbst auch nicht mehr lange hierbleiben.«

Selevan war überrascht, wie schwer diese Eröffnung ihn traf. »Wo soll's denn hingehen, Jago? Ich dachte, du wolltest den Sommer über hierbleiben.«

Jago schüttelte den Kopf. Er hob sein Glas und nahm einen tiefen Zug von seinem Guinness. »Bleib nie irgendwo hängen. Das ist mein Motto. Ich denke über Südafrika nach. Kapstadt vielleicht.«

»Aber du verschwindest nicht, bevor ich zurück bin! Klingt ein bisschen blöd, aber ich habe mich daran gewöhnt, dich in der Nähe zu haben.«

Jago sah ihn an, und das Licht spiegelte sich auf seinen Brillengläsern. »Das sollte man lieber nicht tun. Es macht sich nicht bezahlt, sich an irgendetwas zu gewöhnen.«

»Sicher, das weiß ich, aber…«

Die Tür zur Bar wurde aufgestoßen, aber nicht in üblicher Weise, so als öffnete jemand sie gerade weit genug, um eintreten zu können. Stattdessen schlug sie mit einem gewaltigen Krachen gegen die Wand, das jede Konversation hätte verstummen lassen, wäre außer Jago und Selevan noch irgendjemand anderes hier gewesen.

Zwei Frauen kamen herein. Der einen standen die leuchtend roten Haare zu Berge. Die andere trug eine Strickmütze, die sie tief in die Stirn herabgezogen hatte. Beide sahen sich flugs um, und schon steuerte der Rotschopf auf die Kaminecke zu.

»Ah«, sagte sie. »Wir hätten Sie gern gesprochen, Mr. Reeth.«

28

Sie fuhren gen Westen. Sie sprachen sehr wenig. Was Lynley wissen wollte, war, warum sie in Bezug auf Details gelogen hatte, die sich so einfach überprüfen ließen. Über Paul, den Affenpfleger, beispielsweise. Es hatte nicht mehr als einen einzigen Anruf gekostet, um herauszufinden, dass es keinen Paul gab, der im Zoo nach den Primaten sah. Ob ihr denn nicht klar gewesen sei, wie das auf die Polizei wirken musste?

Sie warf ihm einen Blick zu. Sie trug heute keine Kontaktlinsen, und eine sandfarbene Haarsträhne war nach vorn gefallen und lag auf dem Rand ihrer Brille. »Ich schätze, ich habe Sie einfach nicht als Polizisten angesehen, Thomas«, sagte sie. »Und die Antworten auf die Fragen, die Sie mir gestellt haben und die Fragen, die Sie im Kopf hatten, aber nie gestellt haben, waren persönlicher Natur, oder etwa nicht? Sie hatten nichts mit Santo Kernes Tod zu tun.«

»Aber diese Antworten zurückzuhalten, hat Sie verdächtig gemacht. Das müssen Sie doch einsehen.«

»Ich war gewillt, das Risiko einzugehen.«

Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Die Landschaft veränderte sich, als sie sich der Küste näherten. Das raue, mit Gesteinsbrocken übersäte Farmland, dessen Begrenzungen aus flechtenbewachsenen Bruchsteinmauern bestanden, und die welligen Weiden und Wiesen gingen über in Hügel und Talmulden, und am Horizont malten sich die Maschinenhäuser der stillgelegten Minen ab. Daidre fuhr nach St. Agnes, einem Schiefer- und Granitdorf, das sich einen Hügel hinab zur See erstreckte. Die wenigen steilen Straßen schlängelten sich malerisch dahin, links und rechts erhoben sich Cottages und Läden, die gleich einem Fluss unausweichlich der steinigen Bucht von Trevaunance Cove entgegenstrebten. Bei Niedrigwasser zogen hier Traktoren Skiffe in die See, und bei ansteigender Flut kamen brauchbare Wellen von Westen und Südwesten und lockten in Scharen die Surfer aus der Umgebung herbei, die um einen Platz auf dem Wasser rangelten. Doch anders als Lynley angenommen hatte, fuhr Daidre nicht zur Bucht hinab, sondern verließ das Städtchen wieder und folgte in nördlicher Richtung den Schildern nach Wheal Kitty.

»Ich konnte schwerlich ignorieren«, nahm er ihre Unterhaltung wieder auf, »dass Sie behauptet haben, Santo Kerne nicht zu erkennen, als Sie die Leiche gesehen hatten. Warum haben Sie gelogen? Verstehen Sie denn nicht, dass Sie das verdächtig machte?«

»Das durfte in dem Moment keine Rolle spielen. Hätte ich zugegeben, dass ich ihn kannte, hätte das weitere Fragen nach sich gezogen. Und diese Fragen zu beantworten, hätte mich gezwungen, andere Menschen in die ganze Sache mit hineinzuziehen…« Sie sah ihn wieder an. Ihr Ausdruck war verdrossen und ungläubig. »Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, wie es ist, Menschen, die man kennt, in eine polizeiliche Ermittlung zu verstricken? Sie müssen doch verstehen, wie sich das anfühlt! Sie sind doch nicht gefühllos! Es ging um private Dinge… Dinge, die geheim zu halten ich versprochen hatte. Oh, was rede ich denn eigentlich? Ihr Sergeant hat sie doch bestimmt längst ins Bild gesetzt. Sie haben doch sicher mit ihr zusammen gefrühstückt, wenn Sie sich nicht sogar gestern Abend noch gesehen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Sie über die Dinge im Unklaren gelassen hat.«

»In Ihrer Garage waren Reifenspuren. Von mehr als einem Fahrzeug.«

»Santos. Aldaras. Sergeant Havers hat Ihnen doch sicher von Aldara erzählt, nehme ich an. Von Santos Geliebter. Und davon, dass sie sich in meinem Cottage getroffen haben.«