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»Gibt's ja wohl! Und ihr könnte eins passieren.«

»Sie stirbt! Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das überlebt niemand. Sie hat nur noch ein paar Wochen oder Tage oder vielleicht nur Stunden und… Willst du, dass sie so stirbt? Hier? In diesem Loch? Ohne Luft oder Licht oder ein Fenster, von dem aus sie das Meer sehen kann?«

»Mit Menschen, die sie lieben.«

»Hier gibt es keine Liebe. Die gab es nie.«

»Sag das nicht!« Gwynder fing an zu weinen. »Nur weil… nur weil… Sag so was nicht!«

Daidre machte einen Schritt auf sie zu, hielt dann aber inne. Sie legte eine Hand an den Mund. Durch ihre Brillengläser sah Lynley, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten.

»Dann lass uns unsere Wochen, Tage oder Stunden«, sagte Gwynder. »Verschwinde einfach.«

»Braucht ihr…«

»Verschwinde!«

Lynley legte die Hand auf Daidres Arm. Sie sah ihn an. Dann nahm sie die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel der Jacke über die Augen.

»Kommen Sie«, sagte er und schob sie behutsam in Richtung Tür.

»Gefühllose Fotze«, sagte Gwynder in ihrem Rücken. »Hörst du mich, Edrek? Du bist eine gefühllose Fotze. Behalt dein Geld! Behalt deinen Kerl! Behalt dein Leben! Wir brauchen dich nicht und wollen dich nicht, also komm nicht wieder her! Hast du mich gehört, Edrek? Ich hätte dich nie um Hilfe bitten dürfen. Komm nicht wieder her!«

Draußen vor dem Wohnwagen blieben sie stehen. Lynley sah, wie Daidres Körper bebte. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Es tut mir so leid«, sagte er und drückte die Wange auf ihren Scheitel.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, rief eine Stimme. Lynley fuhr herum. Zwei Männer waren aus dem Schuppen getreten. Das mussten Goron und Daidres Vaters sein, erkannte er. Sie eilten auf sie zu. »Was ist hier los?«, verlangte der ältere Mann zu wissen.

Der Jüngere sagte nichts. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er kratzte sich ungeniert im Schritt, schniefte laut, und genau wie seine Zwillingsschwester blinzelte er kurzsichtig. Er nickte ihnen freundlich zu; nicht so sein Vater.

»Was wollen Sie hier?«, blaffte er. Sein Blick glitt von Lynley zu Daidre und zurück. Er schien sie genauestens unter die Lupe zu nehmen, aber ihre Schuhe aus irgendeinem Grunde ganz besonders. Lynley erkannte, warum, als sein Blick auf Udys Füße fiel. Der Mann trug Stiefel, die ihre besten Tage lange hinter sich hatten. Die Sohlen waren vorne eingerissen.

»Nur ein kurzer Besuch…« Daidre war einen Schritt beiseitegetreten, sodass Lynley den Arm von ihrer Schulter nehmen musste. Jetzt da sie ihrem Vater gegenüberstand, war keinerlei Ähnlichkeit zu ihm oder ihrem Bruder zu erkennen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte Udy. »Wir brauchen hier keine Wohltäter. Wir haben es immer allein geschafft, und das tun wir auch jetzt. Also hauen Sie ab! Das hier ist Privatgelände, und wir haben ein Schild aufgestellt.«

Lynley ging auf, dass zwar die Frauen im Wohnwagen wussten, wer Daidre war, diese Männer hier hingegen nicht. Gwynder hatte ihre Schwester aus irgendeinem Grunde auf eigene Faust ausfindig gemacht, vielleicht weil sie wusste, dass ihre Mission hoffnungslos sein würde. Udy hatte indes keine Ahnung, dass er seine Tochter vor sich hatte. Doch als Lynley darüber nachdachte, erschien es ihm gar nicht so seltsam. Die Dreizehnjährige, die seine Tochter gewesen war, gehörte der Vergangenheit an. Die kultivierte, gebildete Frau, die neben ihm stand, war eine Fremde. Lynley wartete darauf, dass Daidre sich zu erkennen gab. Doch das tat sie nicht.

Stattdessen gab sie sich einen sichtlichen Ruck, nestelte am Reißverschluss ihrer Jacke, als suche sie Beschäftigung für ihre Hände, und dann sagte sie zu Udy: »Ja. Wir gehen.«

»Dann mal los«, trieb er sie an. »Wir haben hier einen Betrieb, und außerhalb der Saison wollen wir keine Besucher. Wir öffnen im Juni, und dann gibt's hier reichlich Steinchen zu kaufen.«

»Danke. Ich werde daran denken.«

»Und beachten Sie das Schild. Da steht: "Zutritt verboten", und das ist verdammt noch mal auch so gemeint. Der Zutritt bleibt so lange verboten, bis wir öffnen, kapiert?«

»Sicher. Wir haben verstanden.«

Tatsächlich hatte Lynley kein Schild gesehen, weder eines, das ihnen den Zutritt verboten hätte, noch einen Hinweis darauf, dass sich an diesem gottverlassenen Ort ein Betrieb befand. Aber es schien wenig sinnvoll, den Mann darauf aufmerksam zu machen. Es war klüger, sich davonzumachen und diesen Ort, seine Menschen und ihre Lebensweise hinter sich zu lassen. In diesem Moment begriff er, dass Daidre genau das hatte tun wollen und auch getan hatte. Und er verstand auch, welchen Kampf sie nun auszufechten hatte.

»Gehen wir«, sagte er, legte wieder den Arm um ihre Schultern und führte sie zum Wagen. Er fühlte die Blicke der beiden Männer im Rücken, und aus Gründen, die er nicht recht verstand, hoffte er, sie würden Daidre nicht im letzten Moment noch erkennen. Er wusste, was geschehen würde, falls das passierte. Gewiss nichts Bedrohliches — jedenfalls nicht in der Art, die man typischerweise als bedrohlich empfand. Hier lauerten andere Gefahren als nur die körperlicher Versehrtheit. Das emotionale Minenfeld etwa, das zwischen Daidre und diesen Menschen lag. Es drängte ihn, sie von diesem Ort wegzubringen.

Am Auto angekommen, bot Lynley an zu fahren. Doch Daidre schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, widersprach sie. »Es geht schon.« Aber als sie eingestiegen waren, startete sie nicht sofort den Motor, sondern angelte ein Papiertaschentuch aus dem Handschuhfach und putzte sich die Nase. Dann legte sie die Arme auf das Lenkrad und blickte zurück auf den Wohnwagen in der Ferne.

»Jetzt verstehen Sie es vielleicht«, sagte sie.

Er antwortete nicht. Wieder war eine Haarsträhne vor ihre Brille gerutscht. Wieder wollte er sie wegstreichen. Wieder tat er es nicht.

»Sie wollen nach Lourdes. Sie hoffen auf ein Wunder. Sie haben nichts sonst, worauf sie hoffen können, aber eben auch kein Geld, um ihren Wunsch zu realisieren. Und da komme ich ins Spiel. Darum hat Gwynder mich ausfindig gemacht. Soll ich es für sie tun? Soll ich diesen Leuten vergeben, was sie getan haben? Wie wir gelebt haben? Was sie nicht sein konnten? Bin ich jetzt für sie verantwortlich? Was schulde ich ihnen denn bis auf das Leben selbst? Ich meine, die schiere Tatsache des Lebens, und nicht, was ich daraus gemacht habe. Und was bedeutet das denn eigentlich, der Frau etwas schuldig zu sein, die einen geboren hat? Das ist doch wohl nicht der schwierigste Teil am Muttersein, oder? Das glaube ich jedenfalls nicht. Aber den Rest, alles, was Elternschaft eigentlich ausmacht, haben sie total verhunzt.«

Schließlich berührte er sie doch. Er tat, was er sie selbst hatte tun sehen: Er strich ihr die Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Finger berührten ihr Ohr. Behutsam fragte er: »Warum sind Ihre Geschwister zurückgekommen? Wurden sie nicht adoptiert?«

»Es gab… Die Pflegeeltern nannten es einen Unfall. Angeblich hat Goron mit einer Plastiktüte gespielt, aber ich glaube, es steckte mehr dahinter. Ich vermute, es war eine schiefgegangene Disziplinarmaßnahme an einem hyperaktiven kleinen Jungen. Auf jeden Fall war er danach "beschädigt" und darum in den Augen der Menschen, die ihn kennenlernten, nicht adoptierbar. Gwynder hätte vielleicht Adoptiveltern gefunden, aber sie wollte um keinen Preis von ihm getrennt werden. Also zogen sie zusammen von Heim zu Heim, jahrelang. Als sie alt genug waren, kamen sie hierher zurück.« Mit einem freudlosen Lächeln sah sie ihn an. »Ich wette, dieser Ort — diese Geschichte ist nicht gerade das, was Sie gewöhnt sind.«

»Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt.« Er wollte noch mehr sagen, wusste aber nicht, wie er es in Worte fassen sollte. Schließlich sagte er lediglich: »Wollen Sie mich nicht Tommy nennen, Daidre? Meine Familie und Freunde…«

Sie hob eine Hand. »Ich glaube nicht.«

»Wegen all dem hier?«

»Nein. Sondern weil es für mich sehr wohl eine Rolle spielt.«