Der auflandige Wind war hier stark und kam in anhaltenden Böen, auf denen Seevögel dahinglitten. Dreizehenmöwen schrien und erhielten Antwort von Silbermöwen. Eine einsame Krähenscharbe schoss aus der Felswand empor, als Jago Reeth sich dem Rand der Klippe näherte. Der Vogel stieß hinab, stieg wieder auf und begann zu kreisen. Bea sah, wie er im aufgewühlten Wasser nach Beute suchte.
Sie folgten dem Küstenpfad in südlicher Richtung, aber nach zwanzig Metern fand sich eine Lücke im Ginster, der zwischen dem Weg und dem Abgrund wuchs, und dort begann eine steile Felstreppe. Hier sollte es hinuntergehen, erkannte Bea, als Jago Reeth den Abstieg begann.
»Warten Sie einen Moment«, sagte sie zu ihren Begleitern und ging voran, um herauszufinden, wohin die Treppe führte. Vermutlich zum Strand, der etwa sechzig Meter unterhalb der Klippe lag. Sie war entschlossen, Jago Reeth zu sagen, sie werde hier weder ihr Leben noch das von Havers oder Ben Kerne riskieren, indem sie ihm auf solch einer gefährlichen Route zum Meer hinabfolgten. Doch sie stellte fest, dass die Treppe nur fünfzehn Stufen abwärts führte und in einem weiteren Pfad mündete, der schmal und an beiden Seiten dicht mit Ginster und Riedgras bewachsen war. Auch dieser Weg führte nach Süden, aber nur ein kurzes Stück. Die uralte Hütte, die zum Teil in die Klippe hineingebaut war, war von ihrem Standpunkt aus bereits zu sehen. Jago Reeth hatte soeben die Tür erreicht und stemmte sie auf. Dann sah er reglos zu Bea zurück. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, ehe er das alte Häuschen betrat.
Bea kehrte zum Küstenpfad zurück und rief gegen das Tosen des Windes, des Meeres und gegen das Geschrei der Vögel an: »Er ist gleich da unten in der Hütte. Gut möglich, dass er dort irgendwas versteckt hat, also gehe ich zuerst rein. Sie können auf dem Pfad warten, aber kommen Sie nicht näher, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe!«
Sie ging die Treppe hinab und den Pfad entlang. Der Ginster kratzte ihr über die Hosenbeine. Schließlich erreichte sie die Hütte und stellte fest, dass Jago Reeth in der Tat Vorbereitungen für diesen Moment getroffen hatte. Allerdings nicht, indem er sich bewaffnet hatte: Er oder irgendjemand anderes hatte einen Campingkocher, einen Wasserkanister und eine kleine Kiste mit Vorräten in die Hütte geschafft. So unglaublich es schien: Der Mann kochte Tee.
Die Hütte war aus dem Treibholz verunglückter Schiffe gebaut, von denen es im Laufe der Jahrhunderte zahllose gegeben hatte. Es war ein kleines Gebäude, eine Bank umlief drei der Wände, und der Steinfußboden war uneben. Seit jeher hatten Menschen ihre Initialen in die Wände geritzt, sodass sie inzwischen aussahen wie eine hölzerne Ausgabe des Steins von Rosette. In diesem Falle jedoch waren die Inschriften auf einen Blick zu entziffern und sprachen von Liebespaaren ebenso wie von Menschen, deren innere Nichtigkeit sie bewog, eine äußerliche Ausdrucksform zu finden, um ihrer Existenz Bedeutung zu verleihen.
Bea forderte Reeth auf, von dem Campingkocher zurückzutreten, was er bereitwillig tat. Sie nahm den Kocher ebenso in Augenschein wie die spärlichen Vorräte: Plastikbecher, Zucker, Tee, Milchpulvertütchen und ein Löffel für alle. Sie war überrascht, dass der alte Knabe nicht auch für Teekuchen gesorgt hatte.
Rückwärts trat sie aus der Tür und winkte Havers und Ben Kerne zu sich. Als sie alle vier im Innern der Hütte standen, war kaum genug Platz, sich zu rühren. Dennoch gelang es Jago Reeth, seinen Tee zu kochen, und er drängte wie die Gastgeberin einer Hausparty in König Edwards Zeiten jedem von ihnen einen Becher auf. Dann erstickte er die Flamme und stellte den Kocher auf den Steinboden unter der Bank, vielleicht um sie wissen zu lassen, dass es nicht seine Absicht war, ihn als Waffe einzusetzen. Das veranlasste Bea, ihn nochmals zu filzen, um auf Nummer sicher zu gehen. Da er den Kocher vor ihrer Ankunft in die Hütte gebracht hatte, konnte man schließlich nicht wissen, was er hier noch alles deponiert hatte. Doch er war so unbewaffnet wie zuvor.
Nachdem sie die Doppeltür geschlossen und verriegelt hatten, drangen die Laute von Wind und Möwen nur noch gedämpft zu ihnen durch. Die Atmosphäre war beinah klaustrophobisch; kaum ein Wort war bislang gesprochen worden. »Nun haben Sie uns hierher gelotst, Mr. Reeth«, eröffnete Bea schließlich die Runde. »Was haben Sie uns zu sagen?«
Er hielt seinen Teebecher in beiden Händen. Er nickte, aber es war nicht Bea, sondern Ben Kerne, zu dem er sprach, und sein Tonfall war freundlich. »Einen Sohn zu verlieren, ist das Schlimmste, was einem Mann passieren kann. Sie haben mein tiefes Mitgefühl.«
»Jedes Kind zu verlieren, ist ein schwerer Schlag.« Ben Kerne klang misstrauisch. Es schien Bea, als versuche er, Jago Reeth und die Gedanken hinter dessen Worten zu durchschauen. Die Luft schien vor Spannung zu knistern. Es sah fast wie eine Verlegenheitsgeste aus, als Sergeant Havers ihr Notizbuch hervorholte und es aufschlug. Bea rechnete schon damit, dass Reeth sie auffordern würde, es wieder wegzustecken, doch stattdessen nickte der alte Mann und sagte: »Ich habe nichts dagegen.« Und an Kerne gewandt: »Sie?« Als Ben den Kopf schüttelte, fügte Jago hinzu: »Meinetwegen könnten Sie sogar verwanzt sein, Inspector. Eine Situation wie diese muss schließlich dokumentiert werden.«
Er hatte wirklich an alles gedacht. Doch noch hoffte Bea darauf, einen Winkel zu erkennen, zu hören oder zu spüren, den er vergessen hatte zu berücksichtigen. Es musste ihn geben, und sie wollte bereit sein, sich darauf zu stürzen, wenn er zutage trat.
»Fahren Sie fort«, sagte sie.
»Aber es ist noch schlimmer, wenn man einen Sohn verliert«, sagte Jago Reeth zu Ben Kerne. »Anders als eine Tochter trägt der Sohn den Namen weiter. Er ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und letzten Endes ist es weit mehr als nur der Name. Er trägt den Sinn — von allem in sich. Den Grund hierfür…« Er sah sich in der Hütte um, als enthielte sie die ganze Welt und die Milliarden von Leben auf dieser Welt.
»Ich bin nicht sicher, ob es für mich diese Unterscheidung gibt«, erwiderte Ben Kerne. »Jeder Verlust… eines Kindes… ganz gleich welches Kindes…« Er räusperte sich und verstummte dann.
Jago Reeth wirkte zufrieden. »Einen Sohn durch Mord zu verlieren, ist jedenfalls entsetzlich, nicht wahr? Die Tatsache seiner Ermordung ist fast so schlimm, wie den Namen des Mörders zu kennen, aber keinen Finger rühren zu können, um den verdammten Scheißkerl seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
Kerne blieb stumm. Auch Bea und Barbara Havers schwiegen. Nach einer Weile stellte Kerne den Teebecher, von dem er keinen Schluck genommen hatte, behutsam auf die Erde. Aus dem Augenwinkel sah Bea, dass Havers an ihrer Seite sich regte.
»Das ist furchtbar«, fuhr Jago fort. »Genau wie die Ungewissheit.«
»Ungewissheit in Bezug worauf, Mr. Reeth?«, fragte Bea.
»In Bezug auf die Hintergründe der Tat. Auf den Hergang. Ein Mann kann den Rest seines Lebens damit verbringen, sich nachts schlaflos im Bett zu wälzen und zu rätseln, zu fluchen und zu wünschen. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine. Wenn Sie es jetzt noch nicht wissen, werden Sie es jedenfalls herausfinden. Es ist die Hölle auf Erden, und es gibt kein Entkommen. Ich fühle mit Ihnen, Mann. Bei dem, was Sie jetzt durchmachen, und bei dem, was noch kommen wird.«
»Danke«, sagte Ben Kerne leise. Bea sah seine weißen Knöchel und musste ihn für seine Beherrschung bewundern.
»Ich kannte Ihren Santo. Netter Junge. Ein bisschen großspurig, wie alle Jungen in dem Alter, aber nett. Und seit diese Tragödie passiert ist…«
»Seit er ermordet wurde«, verbesserte Bea ihn.
»Mord ist eine Tragödie, Inspector«, entgegnete Reeth. »Selbst wenn ihr Polizisten einen Mordfall für eine Schnitzeljagd halten mögt. Es ist eine Tragödie, und wenn sie einen trifft, besteht die einzige Hoffnung auf Frieden darin zu wissen, was passiert ist, und auch anderen die Wahrheit mitteilen zu können. Falls Sie wissen, was ich meine«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu. »Und weil ich Santo kannte, habe ich mir wieder und wieder den Kopf darüber zerbrochen, was dem Jungen passiert sein könnte. Und ich habe beschlossen, wenn ein alter, abgehalfterter Knacker wie ich Ihnen ein bisschen Frieden geben kann, Mr. Kerne, dann bin ich es Ihnen schuldig.«