»Sie schulden mir überhaupt nichts…«
»Wir alle schulden einander etwas«, fiel Jago ihm ins Wort. »Das zu vergessen, ist es, was uns die Tragödien beschert.« Er hielt inne, als wolle er diesen Worten besonderen Nachdruck verleihen. Er leerte seinen Becher und stellte ihn neben sich auf die Bank. »Was ich darum tun will, ist, Ihnen zu sagen, was meiner Meinung nach mit Ihrem Jungen passiert ist. Denn ich habe darüber nachgedacht, verstehen Sie, und ich bin sicher, das haben Sie auch, genau wie die Cops hier. Wer würde einem so netten Jungen so etwas antun?, habe ich mich tagelang gefragt. Und wie hat er es angestellt? Und warum?«
»Aber nichts von alldem bringt Santo zurück, oder?«, fragte Ben Kerne.
»Natürlich nicht. Aber das Wissen… es letzten Endes voll und ganz zu verstehen… Ich wette, darin liegt Frieden, und den habe ich Ihnen zu bieten. Frieden. Also hier ist, was ich glaube…«
»Nein. So wird es nicht laufen, Mr. Reeth.« Bea ahnte plötzlich, was Reeth vorhatte, und mit dieser Ahnung kam ihr die Erkenntnis, wohin es führen würde.
Doch Ben Kerne ging dazwischen: »Lassen Sie ihn bitte fortfahren. Ich will ihn anhören, Inspector.«
»Das gibt ihm die Möglichkeit…«
»Bitte, lassen Sie ihn weiterreden!«
Höflich, fast schon liebenswürdig wartete Reeth auf Beas Einwilligung. Sie nickte knapp, aber sie war nicht glücklich. Das Ganze war nicht mehr nur regelwidrig und verrückt, sondern auch noch geradezu anmaßend provokant.
»Ich habe mir Folgendes überlegt«, begann Jago Reeth. »Jemand hat da eine offene Rechnung, und er beschließt, dass es Ihr Junge sein soll, der sie bezahlt. Was für eine Rechnung?, fragen Sie sich. Könnte alles Mögliche sein, oder? Eine Rechnung aus jüngster Zeit, eine uralte Rechnung; es spielt keine Rolle. Aber irgendwann muss abgerechnet werden, und Santo soll die Zeche zahlen. Also macht dieser Mörder — könnte ein Mann sein oder eine Frau, auch das spielt keine Rolle, denn das Entscheidende ist der Junge und die Tatsache, dass der Junge tot ist, verstehen Sie, und das ist etwas, was Cops wie diese beiden hier immer vergessen… Der Mörder schließt also Bekanntschaft mit Ihrem Jungen, denn ihn zu kennen, bedeutet, Zugang zu ihm zu haben. Und den Jungen zu kennen, liefert auch die Mittel zur Tat, denn Ihr Sohn ist von der offenherzigen Sorte und redet gern. Über alles Mögliche, aber wie sich herausstellt, redet er vor allem über seinen Vater. So wie es die meisten Jungen tun. Er erzählt, dass sein Vater ihm ständig zusetzt: wegen aller möglichen Sachen, aber vor allem, weil er dem Surfen und Frauen den Vorzug gibt vor einem geregelten Leben. Wer kann ihm daraus schon einen Vorwurf machen? Er ist ja erst achtzehn! Doch sein Vater hat eigene Ziele für seinen Sohn, was dazu führt, dass der Junge rebelliert und redet und noch ein bisschen mehr rebelliert. Und das bringt ihn dazu, nach… Wie nennt man so jemanden?… nach einem stellvertretenden Vater zu suchen…«
»Ersatzvater.« Bens Stimme klang belegt.
»Das ist der richtige Ausdruck. Oder vielleicht auch eine Ersatzmutter. Oder… irgendeine andere Art Ersatz. Priester. Beichtvater. Priesterin. Was auch immer. Auf jeden Fall sieht diese Person Mann oder Frau, jung oder alt, wie sich die Tür des Vertrauens öffnet, und marschiert geradewegs hindurch, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Er ließ sich alle Optionen offen, schloss Bea. Er war kein Dummkopf, wie er selbst gesagt hatte, und der Vorteil, den er in dieser Situation hatte, waren all die Jahre, die er darüber hatte nachdenken können, welchen Ansatz er wählen sollte, wenn der Zeitpunkt endlich gekommen war.
»Also, diese Person — nennen wir sie in Ermangelung eines besseren Begriffs den Beichtvater — kocht becherweise Tee und heiße Schokolade und noch mehr Tee und noch mehr Schokolade und tischt Kekse auf, aber noch wichtiger: Er bietet Santo einen Platz, wo er tun kann, was er will, und sein kann, wer er will. Und dann wartet der Beichtvater. Und bald geht ihm auf, dass ihm die Mittel zur Verfügung stehen, die Rechnung, die da noch aussteht, zu begleichen. Der Junge ist schon wieder mit seinem Vater aneinandergeraten. Es ist ein Streit, der zu nichts führt, wie immer, aber dieses Mal hat der Junge seine ganze Kletterausrüstung von ihrem üblichen Aufbewahrungsort geholt, wo sie jahrelang gleich neben der des Vaters gehangen hatte, und in seinen Kofferraum gepackt. Was hat er vor? Es ist die klassische Reaktion: Ich werd's ihm zeigen! Ich zeig ihm, was für ein Kerl ich bin. Er denkt, ich bin eine Null, aber ich zeig's ihm. Und was könnte besser sein, als ihn in seiner eigenen Disziplin zu schlagen? Das bringt die Kletterausrüstung in Reichweite des Beichtvaters, und der sieht, was wir einmal… den Weg nennen wollen.«
Bea sah, wie Ben Kerne den Kopf senkte, und sprach ihn an: »Mr. Kerne, ich glaube, es ist…«
»Nein«, unterbrach er sie, und unter Mühen richtete er sich wieder auf. »Weiter!«
»Der Beichtvater wartet nur noch auf die richtige Gelegenheit, die sich schließlich einstellt. Denn der Junge ist vertrauensselig und nachlässig mit seinem Eigentum, auch mit seinem Auto. Es ist nicht schwierig hineinzugelangen, denn es ist niemals abgeschlossen, und mit einem Handgriff öffnet sich der Kofferraum, und da liegt alles. Die richtige Auswahl ist der Schlüssel. Vielleicht ein Klemmkeil oder Karabiner. Oder eine Schlinge. Selbst die Gurte wären geeignet. Oder vielleicht alles auf einmal? Nein, das wäre vermutlich zu viel des Guten. Die Schlinge wäre überhaupt kein Problem, denn die ist aus Nylon und ließe sich mit einer Schere, einem scharfen Messer, einer Rasierklinge oder womit auch immer durchtrennen. Mit den anderen Utensilien wäre es ein bisschen schwieriger. Denn bis auf das Seil und das Seil wäre eine gar zu offensichtliche und augenfällige Option — besteht alles aus Metall, also brauchte man ein Schneidewerkzeug. Aber wie sollte man da drankommen? Kaufen? Nein. Das ließe sich zurückverfolgen. Leihen? Auch da gilt: Irgendjemand würde sich daran erinnern. Eines benutzen, ohne dass der Eigentümer es mitbekäme? Das wäre schon eher möglich und auf jeden Fall klüger; aber woher nehmen? Von einem Freund, Bekannten oder am Arbeitsplatz? Bei irgendwem, dessen Tagesablauf einem genauestens bekannt ist, weil man ihn akribisch beobachtet hat? Alles denkbar, richtig? Der Beichtvater muss also nur den passenden Moment abwarten, und schon ist es passiert. Ein Schnitt reicht, und hinterher ist nichts davon zu sehen, weil der Beichtvater, wie gesagt, kein Dummkopf ist, und er weiß oder sie, denn wir wollen nicht vergessen, dass es ebenso gut eine Frau sein könnte, dass es allesentscheidend ist, keine Beweise zu hinterlassen. Das Beste an der Sache aber ist, dass der Junge seine Ausrüstung selbst mit Klebeband markiert hat. Oder vielleicht hat das sogar sein Vater getan. Jedenfalls ist sie dadurch von dem Kletterzeug aller anderen Leute einfach zu unterscheiden. Die meisten Kletterer tun das, sie markieren ihre Ausrüstung, weil sie so oft zu mehreren klettern gehen. Zusammen zu klettern, ist sicherer, verstehen Sie? Und all das sagt dem Beichtvater, dass so gut wie keine Gefahr besteht, dass irgendjemand anderes außer der Junge selbst diese Schlinge, diesen Karabiner oder jenes Gurtzeug hernehmen wird. Oder was immer es war, das manipuliert wurde; denn ich weiß es natürlich nicht. Aber ich habe mir das hier überlegt: Das Einzige, womit der Beichtvater wirklich aufpassen muss, ist das Klebeband, mit dem die Teile markiert worden sind. Wenn er oder sie neues Band nachkaufen muss, besteht die Gefahr, dass es nicht absolut identisch ist oder zurückverfolgt werden kann. Keine Ahnung wie, aber die Chance besteht, also ist es wichtig, darauf zu achten, das schon vorhandene Klebeband herzunehmen. Es gelingt dem Beichtvater tatsächlich, und das ist gar nicht einfach, denn dieses Band ist steif, wie Isoliertape. Er oder sie, wie gesagt, klebt es hinterher einfach wieder drüber. Vielleicht hält es nicht mehr so gut wie vorher, aber wenigstens ist es dasselbe Band, sodass es dem Jungen vermutlich nicht auffallen wird. Oder falls doch, was wird er wohl tun? Es andrücken und vielleicht noch ein Stück darüberkleben. Also, nachdem all das bewerkstelligt und die Ausrüstung wieder an Ort und Stelle ist, muss man nur noch warten. Und nachdem dann passiert ist, was passiert ist und es ist eine Tragödie, daran gibt es keinen Zweifel, bleibt nichts, was man nicht irgendwie logisch erklären könnte.«