»Sie sind heute ein Lügner, genau wie damals.«
»Also ist sie zu Ihnen gekommen und hat Ihnen erzählt, ich hätte… was immer sie gesagt hat, was ich angeblich getan hätte. Aber was ich über jene Nacht weiß, ist einzig und allein das, was Sie auch wissen, und das ist alles, was ich je gewusst habe. Jamie, Ihr Sohn, ist nach der Party aus irgendeinem Grund zu der Höhle hinuntergegangen, und dort ist er gestorben.«
»Wagen Sie nicht, das zu behaupten«, fauchte Reeth. »Sie sind weggelaufen. Sie haben Pengelly Cove verlassen und sind nie zurückgekommen. Dafür gab es einen Grund, und den kennen wir beide.«
»Ja. Es gab einen Grund. Denn ganz gleich was ich sagte: Mein eigener Vater hat mich genau wie Sie für schuldig gehalten.«
»Und er hatte verdammt guten Grund dazu.«
»Wie Sie möchten, Mr. Parsons. Glauben Sie doch, was Sie wollen. Jetzt und bis in alle Ewigkeit. Aber ich war nicht dort, und darum scheint mir, Ihr Job ist noch nicht erledigt. Denn was immer sie Ihnen erzählt hat und es waren doch Sie, zu dem sie gegangen ist, oder?, sie hat gelogen.«
»Warum sollte sie das tun? Warum würde irgendwer so etwas tun?«
Ben wusste es nur zu gut. Er kannte den Grund und die Ursache. Jetzt, jenseits der Hassliebe und des ewigen Auf und Ab, das ihre Beziehung beinah dreißig Jahre lang ausgemacht hatte, jenseits aller Heimzahlung, begriff er. »Weil sie ist, wer sie ist«, antwortete er. »Weil es eben das ist, was sie tut.«
Er beließ es dabei und erhob sich. An der Tür zur Hütte hielt er kurz inne, denn eine Kleinigkeit war ihm noch unklar. »Haben Sie mich all die Jahre beobachtet, Mr. Parsons? War das wirklich alles, was Sie mit Ihrem Leben angefangen haben? Was war der Zweck Ihres Daseins? Zu warten, bis ich einen Jungen hätte, der so alt wäre wie Jamie bei seinem Tod, und ihn dann umzubringen?«
»Sie wissen ja nicht, wie es ist«, entgegnete Reeth. »Aber das werden Sie noch rausfinden, Mann. Verdammt, Sie werden es rausfinden.«
»Oder haben Sie mich gefunden, weil…« Ben dachte nach. »Weil wir für Adventures Unlimited geworben haben? Haben Sie rein zufällig die Zeitung aufgeschlagen, wo immer Sie auch waren, und den Artikel gelesen, für den der arme Alan sich so abgerackert hat? War es so? Die Story in der Mail on Sunday? Und dann sind Sie herbeigeeilt und haben sich eingerichtet und gewartet, weil Sie so verflucht gut darin geworden sind, Ihren Moment abzupassen? Weil Sie dachten — Sie glaubten, wenn Sie mir antun, was ich Ihrer unerschütterlichen Überzeugung nach Ihnen angetan hätte, dann… was? Dass Sie dann Frieden finden? Dass der Kreis sich endlich schließt? Die Dinge ein Ende nehmen? Wie können Sie so etwas nur glauben?«
»Das werden Sie schon noch herausfinden«, sagte Reeth. »Sie werden's erleben. Denn was ich hier gesagt habe — jedes einzelne Wort, ist reine Spekulation. Ich kenne meine Rechte. Ich habe meine Rechte eingehend studiert. Also, wenn ich hier rausgehe…«
»Verstehen Sie denn nicht? Es spielt keine Rolle«, erwiderte Ben. »Denn ich gehe zuerst hier hinaus.«
Und genau das tat er. Er schloss die Tür hinter sich und ging den Pfad zur Treppe entlang. Seine Kehle schmerzte von der Anstrengung, alles zurückzuhalten, was er im Laufe der Jahre zurückgehalten hatte, ohne es sich selbst einzugestehen. Jemand rief seinen Namen, und er wandte sich um.
Detective Inspector Hannaford trat zu ihm. »Er hat einen Fehler gemacht, Mr. Kerne. Sie machen immer einen Fehler, und wir werden ihn finden. Niemand kann je alles bedenken. Haben Sie Geduld.«
Ben schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle«, wiederholte er. »Würde es Santo zurückbringen?«
»Aber er muss büßen. So funktioniert das eben.«
»Er büßt doch schon. Und selbst wenn nicht, wird er irgendwann begreifen, dass das, was er getan hat, ihm keinen Frieden bringen wird. Er kann es nicht aus seiner Erinnerung löschen. Das kann keiner von uns.«
»Trotzdem«, beharrte Hannaford. »Wir bleiben dran.«
»Tun Sie, was Sie tun müssen«, erwiderte Ben. »Aber nicht um meinetwillen.«
»Dann um Santos willen. Er hat verdient…«
»O ja. Und wie. Aber dies hier hat er ganz bestimmt nicht verdient.«
Und mit diesen Worten ließ Ben sie stehen, ging den Weg entlang und die Steinstufen zur Klippe hinauf. Dort schritt er das kleine Stück über den Küstenpfad bis zu den Weiden, die sie überquert hatten, und zurück zu seinem Wagen. Sollten sie doch mit Jago Reeth oder Jonathan Parsons tun, was immer sie wollten. Oder was sie innerhalb der engen Grenzen des Gesetzes und der Rechte, die er so gut kannte, tun konnten. Denn ganz gleich was sie taten oder was sie nicht taten — es wäre nie genug, um Ben von der Verantwortung freizusprechen, die für immer seine Bürde sein würde. Diese Verantwortung ging weit über Santos Tod hinaus, erkannte er. Sie umfasste die Entscheidungen, die er wieder und wieder getroffen hatte und die das Leben derer bestimmt hatten, die zu lieben er verdammt gewesen war.
Er wusste, es würden Tage kommen, da er Tränen vergoss. Noch konnte er es nicht. Er war wie betäubt. Aber der Trauer entkam man nicht, und zum ersten Mal in seinem Leben akzeptierte er dies.
Als er nach Hause kam, machte er sich auf die Suche nach ihr. Alan war in seinem Büro bei der Arbeit. Den Telefonhörer in der Hand, stand er an der Magnettafel vor zwei Reihen Karteikarten, auf denen Ben den Plan für das Video erkannte, das Alan über Adventures Unlimited drehen wollte. Kerra war im Gespräch mit einem großen blonden Jungen — zweifellos ein potenzieller Übungsleiter. Ben zog sich zurück, ohne die beiden zu stören, und ging die Treppe hinauf. Weder in der Privatwohnung noch sonst irgendwo im Gebäude war sie zu finden. Er spürte ein Flattern in der Brust und trat an den Kleiderschrank, um nachzusehen, aber ihre Kleider waren noch da, und der Rest ihrer Sachen lag in der Kommode. Schließlich sah er sie durchs Fenster: eine schwarz gekleidete Gestalt am Strand, die er für einen Surfer in einem Neoprenanzug hätte halten können, doch er erkannte ihre Kontur und ihr Haar auf einen Blick. Dellen stand mit dem Rücken zum Hotel. Es war Flut, und der Großteil des Strandes lag bereits unter Wasser. Die Wellen umspülten ihre Knöchel. Um diese Jahreszeit war das Wasser immer noch eisig, doch sie trug keinerlei Schutz.
Er ging die Treppen hinunter und zu ihr hinüber. Als er sie erreichte, erkannte er, dass sie einen Stapel Fotos in der Hand hielt. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie wirkte beinah so betäubt, wie er selbst sich fühlte.
Er sagte ihren Namen. Mehr zu sich selbst als zu ihm, murmelte sie: »Ich habe seit Jahren nicht an ihn gedacht. Aber heute kam er mir plötzlich in den Sinn, als hätte er all die Zeit auf diese Gelegenheit gewartet.«
»Wer?«
»Hugo.«
Es war ein Name, den er nie zuvor gehört hatte, und er wollte ihn auch jetzt nicht hören. Er schwieg. Weit draußen auf dem Wasser warteten fünf Surfer auf ihren großen Moment. Eine Welle baute sich hinter ihnen auf, und Ben blickte hinüber, um zu sehen, wer sie nehmen würde. Keiner. Die Welle brach zu weit entfernt, sodass sie auf die nächste Gelegenheit warten mussten.
Dellen fuhr fort: »Ich war sein Liebling. Er hat immer so ein Aufhebens um mich gemacht, und dann hat er meine Eltern gefragt, ob er mich mit ins Kino nehmen dürfe. Und in die Robbenaufzuchtstation. Zum Weihnachtsspiel. Er hat mir Kleider gekauft, in denen er mich sehen wollte, weil ich seine Lieblingsnichte war. Wir zwei, wir haben da etwas ganz Besonderes, hat er immer gesagt. Ich würde dir nicht all diese Sachen kaufen und so schöne Ausflüge mit dir machen, wenn du nicht meine allerliebste Lieblingsnichte wärst.«
Draußen auf See hatte einer der Surfer die Chance ergriffen, sah Ben. Er sprang auf sein Brett und ritt die Welle, suchte, was jeder Surfer sucht, den rasenden grünen Tunnel, dessen schimmernde Wände aufsteigen und sich wölben und in ständiger Bewegung sind, ihn umschließen und wieder freigeben. Es war ein großartiger Ritt, und als er vorbei war, legte der Surfer sich bäuchlings auf sein Board und paddelte zu den anderen zurück, die ihm schon aus der Ferne einen jubelnden Empfang bereiteten. Als er endlich bei ihnen ankam, stieß einer übermütig mit der Faust an seine. Ben fühlte einen Stich, als er das sah. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Dellen und das, was sie sagte.