»Es fühlte sich falsch an, aber Onkel Hugo behauptete, es wäre Liebe. Er hätte mich ausgewählt, weil ich etwas ganz Besonderes wäre. Nicht meinen Bruder, nicht meine Cousins und Cousinen, sondern mich. Wenn er mich berührte und mich bat, ihn zu berühren, war denn das so schlimm? Oder war es nur etwas, was ich nicht verstehen konnte?«
Ben spürte ihren Blick auf sich und wusste, sie erwartete, dass er den Blick erwiderte. Er sollte ihr ins Gesicht sehen und erkennen, wie sehr sie gelitten hatte, und er sollte ihre Gefühle mit den seinen widerspiegeln. Aber er war dazu nicht in der Lage. Denn auch tausend Onkel Hugos änderten nicht eine einzige der Tatsachen. Wenn es Onkel Hugo denn überhaupt je gegeben hatte.
Er fühlte, dass sie sich regte, und sah, dass sie die Fotos durchblätterte. Er rechnete damit, dass sie Onkel Hugo aus dem Stapel ziehen würde, aber das tat sie nicht. Vielmehr zog sie eine Aufnahme hervor, die er kannte. Mum und Dad und zwei Kids im Sommerurlaub — eine Woche auf der Isle of Wight. Santo war acht gewesen, Kerra zwölf.
Sie saßen in einem Restaurant am Tisch, kein Essen weit und breit, also hatten sie wohl beim Eintreffen dem Kellner die Kamera gegeben und ihn gebeten, die glückliche Familie zu knipsen. Sie alle hatten pflichtschuldig gelächelt: Schaut nur, wie sehr wir uns amüsieren.
Auf Fotos konnte man glückliche Erinnerungen bannen. Und man konnte sie rückblickend nutzen, um die Wahrheit zu leugnen. Denn jetzt erkannte Ben darauf die Angst in Kerras schmalem Gesichtchen, den Wunsch, stark genug zu sein, um zu verhindern, dass das Rad sich ein weiteres Mal drehte. In Santos Zügen las er Verwirrung das kindliche Gespür für die Heuchelei, die ihm niemand erklärte. Bens eigener Gesichtsausdruck verriet die grimmige Entschlossenheit, alles wiedergutzumachen. Und in Dellens Gesicht… Das, was immer schon dort gewesen war: Wissen… und Erwartung. Sie trug einen roten Schal im Haar.
Die Familie auf dem Bild schien um sie zu kreisen wie Planeten um die Sonne. Alle saßen ihr leicht zugeneigt. Bens Hand lag auf ihrer, als wolle er sie festhalten, statt sie dorthin entfliehen zu lassen, wo sie zweifellos lieber sein wollte.
Sie kann nichts dafür, hatte er sich wieder und wieder gesagt. Sie kann sich nicht ändern. Was er nicht erkannt hatte, war jedoch, dass er selbst es sehr wohl konnte.
Er nahm ihr das Bild aus der Hand. »Es wird Zeit, dass du gehst.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte er. »St. Ives. Plymouth. Zurück nach Truro. Vielleicht sogar nach Pengelly Cove. Deine Familie ist doch immer noch dort. Sie wird dir helfen, wenn du Hilfe brauchst. Wenn es das ist, was du willst.«
Sie schwieg. Er blickte von dem Foto zu ihr. Ihre Augen hatten sich verdunkelt. Sie fragte: »Ben, wie kannst du…? Nach allem, was passiert ist.«
»Hör auf«, entgegnete er. »Es ist Zeit, dass du gehst.«
»Bitte«, beschwor sie ihn. »Wie soll ich das überleben?«
»Du wirst schon überleben«, versicherte er ihr. »Das wissen wir doch beide.«
»Und was wird aus dir? Aus Kerra? Aus dem Betrieb?«
»Alan ist ja hier. Er ist wirklich ein guter Mann. Und davon abgesehen, werden Kerra und ich schon zurechtkommen. Darin haben wir ja sehr viel Übung.«
Nachdem die Polizei im Salthouse Inn aufgetaucht war, musste Selevan seine Pläne überdenken. Er würde nicht derart selbstsüchtig einfach mit Tammy zur schottischen Grenze aufbrechen können, ohne zu wissen, was hier vor sich ging, und vor allem ohne herauszufinden, ob er Jago irgendwie helfen konnte, falls sein Freund denn Hilfe benötigte. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, warum Jago Hilfe brauchen sollte, aber er hielt es für das Beste, abzuwarten und auf weitere Informationen zu harren. Es dauerte nicht allzu lange. Er hatte nicht angenommen, dass Jago zum Salthouse Inn zurückkehren würde, also war er nach Sea Dreams zurückgefahren. Dort war er eine Weile in seinem Caravan auf und ab gestreift, hatte dann und wann ein Schlückchen aus dem Flachmann genommen, den er sich für die lange Fahrt gefüllt hatte, und schließlich war er nach draußen und hinüber zu Jagos Wohnwagen gegangen.
Er trat jedoch nicht ein. Er hatte einen Zweitschlüssel, aber es fühlte sich nicht richtig an, selbst wenn Jago vermutlich nichts dagegen gehabt hätte. Er setzte sich auf die oberste der Metallstufen und wartete.
Etwa zehn Minuten später fuhr Jago vor. Mit knackenden Gelenken kam Selevan auf die Füße. Er stopfte die Hände in die Taschen und stapfte zu seinem Kumpel hinüber. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als Jago ausstieg. »Sie haben dir auf der Wache doch keinen Ärger gemacht?«
»Ach was«, antwortete Jago. »Alles, was man bei den Cops braucht, ist ein bisschen gute Vorbereitung. Dann läuft es so, wie du es willst, und nicht, wie sie es wollen. Überrascht sie ein bisschen, aber so ist das Leben. Eine verdammte Überraschung nach der anderen.«
»Da hast du recht«, brummte Selevan zustimmend, aber ein Gefühl von Beunruhigung hatte ihn beschlichen, und er konnte nicht so recht sagen, wieso. Irgendetwas an Jagos Sprechweise und am Tonfall seiner Stimme war anders als früher. Er fragte argwöhnisch: »Sie haben dir doch nichts getan, oder?«
Jago lachte bellend. »Die zwei Schlampen? Wohl kaum. Wir haben uns nur unterhalten, das war alles. Ich habe das schon lange kommen sehen, und jetzt ist es vorbei.«
»Also, was ist los?«
»Gar nichts, Kumpel. Vor langer Zeit ist etwas passiert, aber das ist jetzt abgeschlossen. Meine Arbeit hier ist getan.«
Jago ging an Selevan vorbei und stieg die Stufen zum Wohnwagen hinauf. Er hatte die Tür nicht abgeschlossen, erkannte Selevan, sodass er gar nicht draußen hätte warten müssen. Jago trat ein, und Selevan folgte ihm, blieb jedoch unsicher an der Tür stehen, weil er nicht verstand, was in Teufels Namen hier vorging.
»Bist du rausgeflogen, Jago?«, fragte er.
Jago war in der Schlafkammer am Ende des Caravans verschwunden. Selevan konnte ihn nicht sehen, aber er hörte, wie eine Schranktür geöffnet und irgendetwas von dem Bord über der Kleiderstange heruntergezerrt wurde. Gleich darauf stand Jago wieder in der Tür, eine große Reisetasche in der Hand. »Was?«, fragte er.
»Ich hab gefragt, ob du rausgeflogen bist. Du hast gesagt, deine Arbeit sei getan. Hat er dir gesagt, dass er dich nicht mehr braucht, oder was?«
Jago sah aus, als müsse er über die Frage nachdenken, und das fand Selevan seltsam. Entweder war man gefeuert oder nicht. Darüber musste man doch wohl nicht nachgrübeln. Schließlich malte sich ganz langsam ein Lächeln auf Jagos Gesicht ab, das ihm kein bisschen ähnlich sah. »Genau so ist es, Kumpel«, sagte er dann. »Ich werde nicht mehr gebraucht. Schon lange nicht mehr.« Er schien versonnen, und mehr zu sich selbst sagte er dann: »Mehr als ein Vierteljahrhundert. Es hat lange gedauert.«
»Hä?« Selevan verspürte ein drängendes Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Mann, der ihm hier gegenüberstand, war nicht länger der Jago, mit dem er die vergangenen sechs oder sieben Monate abends in der Kaminecke gesessen hatte. Dem alten Jago gab er ganz entschieden den Vorzug einem Jago, der die Dinge unumwunden aussprach und nicht in Gleichnissen redete.
»Ist irgendetwas passiert bei diesen Cops, Kumpel?«, fragte er. »Haben die irgendwas…? Du klingst nicht wie du selbst!« Selevan konnte sich bildlich vorstellen, was die Cops getan haben konnten. Sicher, es waren Frauen gewesen, aber Tatsache war eben auch, Jago war ein alter Knacker, genau wie Selevan selbst, und darüber hinaus nicht gerade in allerbester gesundheitlicher Verfassung. Abgesehen davon, gab es auf der Wache garantiert auch männliche Beamte, die ihn sich vielleicht vorgenommen hatten. Und Cops verstanden sich darauf, genau das zu tun, ohne auch nur die geringste sichtbare Spur zu hinterlassen. Das wusste Selevan genau. Er hatte schließlich einen Fernseher und verbrachte mehr Zeit, als gut war, mit amerikanischen Filmen. Er wusste genau, wie sie es anstellten: ein bisschen Druck auf die Daumennägel. Ein, zwei Stecknadeln unter die Haut gerammt. Es brauchte sicher nicht viel bei einem Kerl wie Jago. Doch merkwürdigerweise benahm der sich überhaupt nicht wie jemand, der in den Händen der Polizei irgendeine Demütigung erlitten hatte.