Sie hielt inne. »Das ist eine vernünftige Idee. Das wäre mir nicht eingefallen. Wenn Sie so weit sind, können wir von mir aus fahren. Es sei denn, Sie möchten irgendetwas…? Ein Sandwich? Suppe? Brian hat auch eine Küche im Salthouse Inn, aber wenn Sie lieber nicht im Schankraum essen möchten…« Sie verspürte wenig Lust, dem Mann ein Essen zu kochen, aber es erschien ihr richtig, es zumindest anzubieten. Irgendwie steckten sie zusammen in dieser Geschichte, vielleicht weil sie beide verdächtigt wurden. So kam es ihr zumindest vor, denn sie hatte Geheimnisse und er ganz offensichtlich ebenfalls.
»Ich nehme an, ich kann mir dort etwas aufs Zimmer kommen lassen«, erwiderte Lynley. »Vorausgesetzt, dass überhaupt eines frei ist.«
»Dann lassen Sie uns fahren«, schlug Daidre vor.
Dieses Mal fuhren sie langsamer zum Salthouse Inn. Es gab keinen Anlass zur Eile. Unterwegs kamen ihnen zwei weitere Streifenwagen und ein Rettungsfahrzeug entgegen. Sie sprachen nicht, und als Daidre zu ihrem Beifahrer hinüberschaute, stellte sie fest, dass seine Augen geschlossen waren und die Hände entspannt auf den Oberschenkeln lagen. Es sah aus, als schlafe er, und vermutlich war es so. Er hatte erschöpft gewirkt. Sie fragte sich, wie lange er schon auf Wanderschaft war.
Als sie auf dem Parkplatz des Gasthofs anhielt, rührte Lynley sich nicht. Sie tippte ihm sacht an die Schulter.
Er öffnete die Augen und blinzelte benommen, als müsse er sich aus einem Traum befreien, um den Kopf klar zu bekommen. Er sagte: »Danke. Es war sehr freundlich…«
»Ich wollte Sie nicht in den Klauen der Polizei lassen«, unterbrach sie ihn. Und dann fügte sie hinzu: »Tut mir leid. Ich habe vergessen, dass Sie dazugehören.«
»In gewisser Weise.«
»Nun, wie auch immer… Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern eine Pause von ihnen. Obwohl, nach dem, was sie gesagt hat, die Beamtin, werden Sie wohl nicht lange Ihre Ruhe haben.«
»Nein. Sie wollen heute Abend noch ausführlich mit mir reden. Die erste Person am Tatort ist immer verdächtig. Sie wollen so viele Informationen wie möglich zusammentragen, und das so schnell wie möglich. So wird es nun einmal gemacht.«
Sie schwiegen einen Moment. Eine Windbö, die stärkste bislang, traf den Wagen und rüttelte daran. Sie bewog Daidre, wieder zu sprechen: »Also, ich hole Sie morgen ab.« Sie machte diesen Vorschlag, ohne wirklich zu überdenken, welche Folgen sich daraus ergeben mochten, was es bedeuten und wie es aussehen könnte. Das sah ihr nicht ähnlich, und sie schärfte sich ein, sich zusammenzureißen. Aber nun waren die Worte einmal heraus, und sie tat nichts, um sie zurückzunehmen. »Sie müssen doch nach Casvelyn, um einzukaufen, meine ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie länger als nötig in diesem Overall herumlaufen wollen. Außerdem brauchen Sie Schuhe und so weiter. Casvelyn ist die nächste Einkaufsmöglichkeit.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, versicherte Lynley. »Aber ich will Ihnen keine Mühe machen.«
»Das sagten Sie bereits. Aber weder ist es besonders nett von mir, noch macht es mir Mühe. Es ist seltsam, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir zusammen in dieser Geschichte stecken, was immer diese Geschichte sein mag.«
»Ich habe Ihnen ein Problem aufgebürdet«, hielt er dagegen. »Mehr als eines. Das Fenster im Cottage. Jetzt die Polizei. Und das tut mir leid.«
»Was hätten Sie denn sonst tun sollen? Sie hätten ja schlecht einfach weitergehen können, nachdem Sie ihn gefunden hatten.«
»Nein. Ich hätte nicht weitergehen können.«
Er saß einen Moment reglos da. Es sah aus, als beobachtete er das Spiel, das der Wind mit dem Türschild trieb.
»Kann ich Sie etwas fragen?«, erkundigte er sich schließlich.
»Sicher«, antwortete sie.
»Warum haben Sie gelogen?«
Ein unerwartetes Summen erhob sich in ihren Ohren. Sie wiederholte das letzte Wort, als hätte sie ihn nicht verstanden; dabei hatte sie ihn nur allzu gut gehört.
»Als wir vorhin hier waren, haben Sie dem Wirt gesagt, der Junge in der Bucht sei Santo Kerne. Sie kannten seinen Namen: Santo Kerne. Aber als die Polizistin Sie gefragt hat…« Er vollführte eine Geste, die zu sagen schien: Den Rest kennen Sie ja.
Die Frage rief Daidre die Tatsache in Erinnerung, dass dieser Mann so ungepflegt und schmutzig er auch war selbst zur Polizei gehörte, obendrein ein Detective war. Von jetzt an musste sie extrem vorsichtig sein.
»Habe ich das gesagt?«, fragte sie.
»Allerdings. Leise, aber nicht leise genug. Und dann haben Sie Detective Inspector Hannaford mindestens zweimal versichert, Sie hätten den Jungen nicht erkannt. Als sie seinen Namen sagte, haben Sie behauptet, ihn ebenfalls nicht zu kennen. Ich frage mich, wieso.«
Er schaute sie an, und auf einmal bereute sie ihr Angebot, ihn am nächsten Morgen zum Einkaufen nach Casvelyn zu fahren. Er war mehr als die Summe seiner Teile, und das hatte sie nicht rechtzeitig gemerkt. Sie sagte: »Ich bin hergekommen, um ein paar Tage Urlaub zu machen. In dem Moment, als ich der Polizistin geantwortet habe, schien es mir der beste Weg, um zu gewährleisten, dass ich auch wirklich Urlaub habe. Eine Auszeit.«
Er erwiderte nichts.
Sie fügte hinzu: »Danke, dass Sie mich nicht verraten haben. Natürlich kann ich Sie nicht daran hindern, das nachzuholen, wenn Sie später noch einmal mit der Polizei reden. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie berücksichtigen… Es gibt Dinge, die die Polizei nicht über mich wissen muss. Das ist alles, Mr. Lynley.«
Er sagte immer noch nichts. Aber er wandte den Blick nicht von ihr ab, und sie spürte die Hitze über den Hals bis in die Wangen aufsteigen.
Die Tür der Gaststätte öffnete sich mit einem Poltern. Ein Mann und eine Frau torkelten in den Wind hinaus. Die Frau knickte um, und der Mann legte ihr einen Arm um die Taille und küsste sie. Sie stieß ihn weg. Es war eine spielerische Geste. Er fing sie wieder ein, und zusammen kämpften sie sich auf eine Reihe geparkter Autos zu.
Daidre beobachtete das Paar, während Lynley die Augen auf sie gerichtet hielt. Schließlich sagte sie: »Ich hole Sie um zehn ab. Passt Ihnen das, Mr. Lynley?«
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. Daidre kam in den Sinn, dass er ein guter Polizist sein musste.
»Thomas«, sagte er schließlich. »Bitte nennen Sie mich Thomas.«
Es war wie in einem alten Western, dachte Lynley. Als er die Gaststube des kleinen Hotels betrat, wo die Stammgäste beieinandersaßen, wurde es mucksmäuschenstill. Dies hier war ein Teil der Welt, in dem man so lange als Fremder galt, bis man sich hier dauerhaft niederließ, und als Zugezogener, bis die Familie über mindestens zwei Generationen hier gelebt hatte. Also ordneten sie ihn als Fremden ein. Doch er war mehr als nur das: Er war ein Fremder in einem weißen Overall mit nichts als Socken an den Füßen. Kein Mantel schützte ihn vor Kälte, Wind und Regen, und wenn das immer noch nicht ausreichte, um ihn als sonderbar zu etikettieren, so hatte überdies seit Menschengedenken niemand außer einer Braut dieses Etablissement von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet betreten.
Die Decke hing keine dreißig Zentimeter über Lynleys Kopf und war vom Ruß des Feuers und von Zigarettenqualm verschmutzt. Die schwarzen Eichenbalken waren mit Messingplaketten verziert. Die Wände zeigten eine Auswahl alter Landwirtschaftsgeräte, vornehmlich Sensen und Heugabeln, und Steinfliesen bedeckten den Boden. Letztere waren uneben, pockennarbig, geriffelt und verschrammt. Die Schwellen bestanden aus dem gleichen Material und wiesen Vertiefungen auf, wo die Laufspuren der Jahrhunderte sich eingegraben hatten. Die Gaststube selbst war klein und in zwei Bereiche unterteilt, von denen jeder mit einem Kamin ausgestattet war, einer groß, einer klein, und beide Feuerstellen schienen eher dazu zu dienen, die Luft zu verpesten, als den Raum zu heizen. Dafür sorgte die Körperwärme der zahlreichen Gäste.