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Lew schüttelte den Kopf. »Er ist einfach abgehauen.«

»Was? Er hat die Stadt verlassen?«

»So ist es.«

»Wer war das?« Cadan nickte zum Telefon hinüber, obwohl sein Vater ihn noch immer nicht ansah.

»Der Kerl, in dessen Caravanpark Jago gewohnt hat. Der hat mit ihm gesprochen, als er seine Sachen gepackt hat, aber er konnte nicht viel aus ihm rausholen.« Lew nahm die Ohrenschützer ab und warf sie auf den Tisch. Dann lehnte er sich an die Theke mit den Finnen, Wachsdosen und all dem anderen Zubehör, die Hände aufgestützt und den Kopf gesenkt, als studierte er die Auslage. »Tja, das bricht uns das Kreuz.«

Es war einen Moment still, und Cadan sah Lew die Hand heben und über den Nacken reiben, der ihm von der Arbeitshaltung beim Shaping immer steif wurde. »Dann ist es ja gut, dass ich vorbeigekommen bin«, bemerkte Cadan.

»Wieso?«

»Ich kann dir helfen.«

Lew hob den Kopf. »Cadan, ich bin einfach zu erledigt, um jetzt mit dir zu streiten.«

»Nein, es ist nicht, wie du denkst«, versicherte Cadan ihm. »Ich kann mir schon vorstellen, dass du glaubst, ich würde die Situation ausnutzen wollen, von wegen: Jetzt muss er mich die Bretter lackieren lassen. Aber darum geht's nicht.«

»Sondern worum?«

»Einfach… dir zu helfen. Ich kann auch shapen, wenn du willst. Nicht so gut wie du, aber du kannst es mir ja beibringen. Oder ich übernehme das Versiegeln. Oder das Lackieren. Oder das Schleifen. Ist mir gleich.«

»Und warum willst du das tun, Cadan?«

Cadan zuckte die Achseln. »Du bist mein Vater. Blut ist eben dicker als… na ja, du weißt schon.«

»Und was ist mit Adventures Unlimited?«

»Das hat nicht funktioniert.« Cadan sah den Ausdruck von Resignation im Gesicht seines Vaters. Hastig fügte er hinzu: »Ich weiß, was du jetzt denkst, aber die haben mich nicht rausgeschmissen. Es ist einfach so, dass ich lieber für dich arbeite. Wir haben hier etwas Gutes, und wir sollten es nicht einfach… sterben lassen.«

Sterben. Da war es wieder, dieses furchteinflößende Wort. Bis zu diesem Augenblick war Cadan nicht klar gewesen, wie furchteinflößend es war, weil er so lange, den größten Teil seines Lebens, auf ein ganz anderes Wort fixiert gewesen war: Fortgehen. Aber wie sehr man sich auch abrackerte, um dem Verlust immer einen Schritt voraus zu sein, verhinderte das den Verlust an sich letztlich nicht. Seine Mutter war und blieb verschwunden, und auch andere ließen einen im Stich. So wie Cadan selbst es wieder und wieder getan hatte, bevor es ihm angetan werden konnte. Und wie Cadans Vater es aus ganz ähnlichen Gründen getan hatte. Aber manche Dinge überdauerten die Zeit, trotz aller Ängste, und dazu gehörte eben auch die Verwandtschaft.

»Ich will dir helfen«, wiederholte Cadan. »Ich habe mich einfach blöd angestellt. Aber du bist der Fachmann, und ich schätze, du kannst mir alles beibringen, was ich hierfür wissen muss.«

»Willst du das wirklich? Dieses Handwerk erlernen?«

»Ja.«

»Und was ist mit deinem Fahrrad? Die X-Games oder wie das heißt?«

»Das hier ist im Moment wichtiger. Und ich werde tun, was ich kann, damit es wichtig bleibt.« Dann sah Cadan seinen Vater scharf an. »Reicht dir das, Dad?«

»Ich verstehe nicht, warum du das tun willst, Cadan.«

»Weil du mein Vater bist, du Idiot.«

Selevan hatte Jago nachgesehen, während er davonfuhr, und über all die Zeit nachgegrübelt, die er mit ihm verbracht hatte. Er fand keine Antworten auf die Fragen, die ihm unablässig durch den Kopf gingen. Ganz gleich wie er die Dinge betrachtete, er verstand einfach nicht, was Jago gemeint hatte, und irgendetwas sagte ihm, dass es womöglich sogar besser wäre, das ganze Thema nicht allzu genau zu ergründen. Trotzdem hatte er in der Hoffnung, Jagos Arbeitgeber könnte ein wenig Licht ins Dunkel bringen, bei LiquidEarth angerufen. Aber er hatte lediglich eines erfahren: Was immer Jago mit "fertig" gemeint hatte, es hatte nichts mit Surfbrettern zu tun. Darüber hinaus, erkannte Selevan, wollte er es lieber gar nicht so genau wissen. Vielleicht war er ja ein Feigling, aber, so befand er, manche Dinge gingen ihn einfach nichts an.

Tammy fiel allerdings nicht in diese Kategorie. Er verstaute ihre Habseligkeiten im Auto und fuhr zum Clean-Barrel-Surfshop. Es blieb noch ein wenig Zeit, bis sie den Laden für heute schloss, darum parkte er am Hafen und ging hinüber zu Jill's Juices, wo er einen extra starken Kaffee erstand.

Dann schlenderte er die nördliche Seite der Kaianlage entlang. Ein paar vertäute Fischerboote schaukelten fast unmerklich auf dem Wasser. Enten paddelten in der Nähe, eine ganze Familie mit Mutter, Vater und einem schier unglaublichen ganzen Dutzend Küken. Ein Kajakfahrer absolvierte eine Trainingseinheit am späten Nachmittag und ruderte lautlos in Richtung Launceston.

Die Luft fühlte sich nach Frühling an. Meteorologisch betrachtet, war natürlich schon seit etlichen Wochen Frühling, aber bis heute hatte Selevan dies nicht so empfunden. Endlich war jedoch auch das Wetter dementsprechend. Sicher, der Wind von der See war immer noch frisch, aber er fühlte sich jetzt anders an — so als würde das Wetter umschlagen. Er trug den Geruch von frisch umgepflügter Erde zu ihm herüber, und Selevan sah, dass in den Blumenkästen vor der öffentlichen Bücherei die winterlichen Stiefmütterchen durch Petunien ersetzt worden waren.

Er spazierte bis zum Ende des Kais, wo die alte Kanalschleuse geschlossen war und das Wasser zurückhielt, bis eines der Fischerboote aufs Meer hinauswollte. Von diesem Aussichtspunkt konnte er die Stadt nach Norden hin ansteigen sehen, mit dem alten King-George-Hotel auf der Anhöhe, das nun zu einem Spielplatz für abenteuerlustige Touristen werden sollte; dort waren sie offenbar in der neuen Welt angekommen.

Die Dinge wandeln sich, dachte Selevan bei sich. Das hatte sich sein ganzes Leben lang bewahrheitet, selbst wenn es ihm manchmal so vorgekommen war, als würden sich die wesentlichen Dinge niemals ändern. Er hatte zur Navy gehen wollen, um einem Leben endloser Eintönigkeit zu entkommen, aber dann hatten sich Details in diesem Leben verändert, was schließlich zu grundlegenderen Veränderungen geführt hatte, die wiederum mitnichten Eintönigkeit aufkommen ließen, wenn man ihnen nur seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Die Kinder waren größer, er und seine Frau älter geworden, sie brauchten einen Bullen, um die Kühe zu decken, Kälber kamen zur Welt, der Himmel war an einem Tag blau und voll drohender Wolken am nächsten, David trat in die Army ein, Nan brannte durch, um zu heiraten… Man konnte es gut oder schlecht nennen oder einfach nur das Leben. Und das Leben ging weiter. Man bekam nicht immer das, was man wollte, aber so war es nun einmal. Man mochte toben und mit dieser Tatsache hadern, oder man konnte damit fertig werden. Irgendwann einmal hatte er so ein blödes Plakat in der Bücherei gesehen und sich darüber lustig gemacht: »Wenn das Leben dir Zitronen beschert, mach Limonade daraus!« Wie unglaublich dämlich, hatte er damals gedacht. Aber eigentlich war es das gar nicht, erkannte er jetzt.

Er atmete tief durch. Hier konnte man das Salz in der Luft schmecken. Besser als in Sea Dreams; dort war man zu weit oben über der Klippe. Aber hier war man dem Meer ganz nah. Es lag nur ein paar Meter entfernt, schlug auf die Riffs und schliff sie unermüdlich ab, angezogen von den Mächten der Natur oder der Physik oder von Magnetismus oder was auch immer. Er wusste es nicht, und es war ihm egal.

Er leerte seinen Kaffeebecher und zerdrückte ihn in der Hand. Dann trug er ihn zu einem Mülleimer, wo er kurz anhielt, um sich eine Zigarette anzuzünden, die er auf dem Weg zum Surfshop rauchte.

Tammy stand an der Kasse. Die Schublade vor ihr war offen, und sie zählte die Tageseinnahmen ganz allein im Geschäft. Sie hatte ihn nicht eintreten hören.