Er beobachtete sie schweigend. Mit einem Mal erkannte er Dot in ihr, und das war seltsam; die Ähnlichkeit war ihm nie zuvor aufgefallen. Aber jetzt sah er sie nur zu deutlich, an der Art, wie sie den Kopf schräglegte und ein Ohr dabei entblößte. Und die Form dieses Ohrs… die kleine Vertiefung am Ohrläppchen… Auch das war Dot, und er erinnerte sich daran, weil… Oh, das war das Schlimmste, aber er hatte dieses Ohrläppchen ungezählte Male gesehen, wenn er sie bestieg und seinen lieblosen Akt an ihr vollzog, und die arme Frau hatte nie das kleinste bisschen Freude daran haben können, was er heute bedauerte. Er hatte sie nicht geliebt, aber das war nicht ihre Schuld gewesen, auch wenn er ihr die Schuld gegeben hatte, weil sie nicht diejenige war, die sie seiner Meinung nach hätte sein müssen, damit er sie hätte lieben können. Mit einem Mal war in seinem Innern alles ganz zugeschnürt. Er räusperte sich kräftig.
Tammy hob den Kopf, und als sie ihren Großvater entdeckte, wurde ihre Miene ein wenig argwöhnisch. Es wunderte ihn nicht; es war schließlich nicht immer einfach gewesen mit ihnen beiden. Seit er diesen Brief unter ihrer Matratze gefunden und ihr damit vor der Nase herumgewedelt hatte, hatte sie nur noch in einsilbiger Höflichkeit mit ihm geredet und nur dann, wenn er sie direkt angesprochen hatte.
»Du solltest nicht allein hier sein«, sagte er.
»Warum nicht?« Sie legte die Hände links und rechts von der Kassenschublade auf die Theke, und für einen Moment glaubte Selevan, sie fürchtete, er werde sich auf die Tageseinnahmen stürzen und sie vorn in sein Hemd stopfen. Aber dann nahm sie die ganze Schublade heraus und trug sie ins Hinterzimmer, wo neben dem Warenlager und den Putzmitteln ein übergroßer, altmodischer Safe stand. Sie stellte die Geldschublade hinein, schloss die schwere Tür und drehte das Kombinationsschloss. Dann schloss sie die Tür zum Hinterzimmer, verriegelte auch diese und legte den Schlüssel in ein Versteck unter dem Telefon.
»Du rufst besser deinen Chef an, Kind«, eröffnete Selevan ihr. Er wusste, dass seine Stimme grantig klang, aber das tat sie immer, wenn er mit ihr sprach. Daran konnte er nichts ändern.
»Warum?«, fragte sie zurück.
»Weil es Zeit wird, dass du von hier verschwindest.«
Ihre Miene veränderte sich nicht, wohl aber ihre Augen. Die Form. Genau wie bei ihrer Tante Nan, dachte Selevan. Genau wie Nan damals, als er sie angeschrien hatte, sie solle sich verpissen, wenn ihr die Hausregeln nicht gefielen, zu denen auch — nein: vor allen — Dingen zählte, dass verflucht noch mal ihr Vater entschied, mit wem seine Tochter sich traf und wann, und eines kannst du mir glauben, Mädchen, es wird nicht dieser Rocker mit dem Motorrad sein, nur über meine Leiche. Fünf Stück, das musste man sich mal vorstellen. Fünf verdammte Motorräder, und jedes Mal hatte er Nan angebrüllt, wenn der Kerl wieder mit einem neuen angebraust kam, die Fingernägel ölverschmiert, die Knöchel schwarz, und wer zum Henker hätte denn darauf kommen sollen, dass er ein Geschäft daraus machen und diese Dinger bauen würde… Wie hießen sie gleich wieder? Chopping? Chopped? Nein, Chopper, das war's, Chopper. Genau wie in Amerika, wo die Leute alle verrückt und reich genug waren, um sich Gott weiß was zu kaufen. Ist es das, was du willst?, hatte er Nan angebrüllt. Das hier? Das hier?
Doch Tammy stritt nicht mit ihm, wie Nan es getan hatte. Sie stampfte nicht auf und warf auch nicht mit Sachen um sich. Sie machte auch jetzt keine Szene. Sie sagte nur: »Wie du willst, Granddad«, und es klang resigniert. »Aber ich nehme es nicht zurück«, fügte sie hinzu.
»Was?«
»Was ich zu dir gesagt habe.«
Selevan runzelte die Stirn und versuchte, sich an ihre letzte Unterhaltung zu erinnern, die tatsächlich eine Unterhaltung gewesen war und nicht bloß die Bitte, Salz, Senf oder die braune Soße herüberzureichen. Er entsann sich ihrer Reaktion, als er sie mit dem Brief konfrontiert hatte. »Ach das«, sagte er. »Na ja. Da kann man nichts machen, stimmt's?«
»Kann man sehr wohl. Aber ist jetzt auch schon egal. Das hier ändert überhaupt nichts, weißt du, ganz gleich was du denkst.«
»Was meinst du?«
»Das hier. Mich wegzuschicken. Mum und Dad haben auch gedacht, es würde etwas ändern, als sie mich aus Afrika weggeschickt haben. Aber es wird nichts ändern.«
»Das glaubst du, ja?«
»Ich weiß es.«
»Ich meine nicht das Wegschicken oder dass sich damit irgendetwas daran ändern könnte, woran du glaubst. Ich meine… was ich denke.«
Sie schien verwirrt, und dann änderte sich plötzlich und unvermittelt ihr Ausdruck. War das bei allen Teenagern so?, fragte er sich.
»Mal angenommen, an deinem Großvater wäre mehr dran, als man auf den ersten Blick sieht«, sagte er. »Hast du daran schon jemals gedacht? Ich wette, nein. Also, hol dein Zeug, und ruf deinen Chef an. Sag ihm, wo du den Schlüssel lässt, und dann lass uns aufbrechen.«
Damit ließ er sie allein im Laden zurück und trat vor die Tür. Er sah dem dicht fließenden Verkehr auf der Küstenstraße nach. Die Einwohner der Stadt kamen vom Gewerbegebiet am Ortsrand oder von noch weiter her zurück nach Hause. Manche mussten zur Arbeit bis nach Okehampton fahren. Als Tammy endlich den Laden hinter sich abschloss, machten sie sich auf den Rückweg zum Kai. Sie schlenderte in langsamerem Tempo hinter ihm her, und er nahm an, das sollte ihm sagen, dass sie zögernd und nur unter Vorbehalt mit den Plänen, die ihr Großvater für sie gemacht hatte, kooperierte.
»Du hast deinen Pass bei dir, richtig?«, fragte er. »Wie lang ist es her, dass du ihn aus seinem Versteck geholt hast?«
»Eine Weile«, räumte sie ein.
»Was hattest du damit vor?«
»Wusste ich zuerst nicht.«
»Aber jetzt weißt du's?«
»Ich habe Geld gespart.«
»Wofür?«
»Um nach Frankreich zu gehen.«
»Frankreich, ja? Du willst ins schöne Paris?«
»Lisieux«, erwiderte sie.
»Li-was?«
»Lisieux. Da ist… Du weißt schon.«
»Oh. Eine Wallfahrt? Oder noch etwas anderes?«
»Es spielt keine Rolle. Ich hab sowieso noch nicht genug Geld zusammen. Aber wenn ich es hätte, würde ich von hier weggehen.« Sie schloss zu ihm auf, und sie gingen ein Stück Seite an Seite, bis sie sagte, als gäbe sie schließlich nach: »Es ist nichts Persönliches, Granddad.«
»So hab ich's auch nicht aufgefasst. Aber ich bin froh, dass du nicht weggelaufen bist. Wär nicht so einfach gewesen, das deinen Eltern zu erklären. »Sie hat sich nach Frankreich abgesetzt, betet am Schrein irgendeiner Heiligen, über die sie in ihren Heiligenbüchern gelesen hat, die sie ja eigentlich nicht hätte lesen dürfen, aber ich hab sie gelassen, weil ich dachte, dass Worte ihr nicht schaden würden.««
»Das ist nicht ganz richtig.«
»Na ja. Wie gesagt, ich bin froh, dass du nicht ausgebüxt bist, denn dafür hätten deine Mutter und dein Vater mich gevierteilt. Das weißt du doch, oder?«
»Ja, aber manchmal kann man auf so etwas keine Rücksicht nehmen, Granddad.«
»Und das hier ist so ein Fall?«
»Genau.«
»Und du bist dir ganz sicher? Denn das ist es, was sie alle sagen, wenn die Sekten sie in die Finger kriegen und raus auf die Straße zum Betteln schicken. Das Geld knöpfen sie ihnen dann übrigens wieder ab. Und so sind sie gefangen wie Ratten auf einem sinkenden Schiff. Das weißt du doch, oder? Irgendein großer Guru, der auf Mädchen wie dich steht, und sie alle müssen seine Babys bekommen, so wie bei einem Scheich im Zelt mit zwei Dutzend Frauen. Oder bei diesen Polygammern.«
»Polygamisten«, verbesserte sie ihn. »Du glaubst hoffentlich nicht ernsthaft, dass dies hier etwas mit solchen Dingen zu tun hat, Granddad. Du machst nur Witze darüber. Nur für mich ist es nicht komisch, verstehst du?«
Sie waren bei seinem Wagen angekommen. Sie sah beim Einsteigen auf die Rückbank und entdeckte ihre alte Reisetasche. Sie schürzte die Lippen, zwang sich dann aber wieder zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Heim nach Afrika, sagte ihre Miene, was bedeutete, heim zu Mum und Dad, bis die sich etwas Neues einfallen ließen, um sie in ihren Überzeugungen zu erschüttern. "Zu ihrem Großvater schicken" würden sie von ihrer Liste streichen und einen neuen Plan schmieden. Als Nächstes würde kommen: "nach Sibirien schicken". Oder "in den australischen Busch".