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Er bedauerte zutiefst, in welch eine Situation er sie gebracht hatte, denn er wusste genau, wie sie seine Reaktion auf alles, was sie ihm an diesem Tag offenbart hatte, interpretieren würde, ganz gleich was er beteuern mochte. Zwischen ihnen verlief eine tiefe Kluft: aufgrund ihrer Geburt, ihrer Kindheit und Erfahrungen. Dass die Kluft nur in ihrem Kopf bestand, nicht aber in seinem, würde er ihr nie begreiflich machen können, und eine derartige Versicherung wäre ohnehin oberflächlich gewesen. Für sie war die Kluft so real, dass sie niemals begreifen würde, dass sie für ihn nicht gleichermaßen real war.

Sie kennen mich überhaupt nicht, wollte er ihr sagen. Sie wissen nicht, wer ich bin, mit welchen Menschen ich mich umgebe, welche Beziehungen mein Leben definiert haben. Aber wie sollte sie auch? Zeitungsberichte Boulevardblätter, Hochglanzmagazine oder was auch immer erzählten eben nur die dramatischen, herzzerreißenden oder schlüpfrigen Episoden. Jene Bestandteile des Lebens, die aus den kostbaren und unvergesslichen alltäglichen Episoden bestanden, kamen darin nicht vor. Sie bargen nicht genug Dramatik, selbst wenn es letztlich sie waren, die bestimmten, wer man war.

Nicht dass es eine Rolle spielte, wer er war. Mit Helens Tod hatte es alle Bedeutung verloren.

Oder zumindest hatte er sich das eingeredet. Nur dass das, was er jetzt empfand, etwas ganz anderes sagte. Dass das Leid eines anderen Menschen ihn berührte, sprach von… was? Wiedergeburt? Er wollte nicht wiedergeboren werden. Genesung? Er war auch nicht sicher, ob er genesen wollte. Doch ein Hauch dessen, was er war, im Kern dessen, was er zu sein schien, veranlasste ihn, wenigstens teilweise nachzuempfinden, was Daidre fühlte. Gefangen im Scheinwerferlicht, nackt, wo sie sich doch so bemüht hatte, sich ein Kostüm zu schneidern.

»Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen«, sagte er.

Sie sah ihn an, und ihr Ausdruck verriet, dass sie glaubte, er spräche von etwas ganz anderem. »Das kann ich verstehen«, erwiderte sie. »Mein Gott, wer würde sich das in Ihrer Lage nicht wünschen?«

»Nicht wegen Helen«, stellte er klar. »Obwohl ich praktisch alles dafür geben würde, wenn ich sie zurückbekommen könnte.«

»Also weswegen dann?«

»Wegen dieser Sache. Was ich über Sie gebracht habe.«

»Das gehört zu Ihrem Job«, erwiderte sie.

Doch es war nicht sein Job. Er war kein Polizist. Er hatte diesem Teil seines Lebens den Rücken gekehrt, weil er ihn keine Sekunde länger hätte ertragen können, weil er ihn von Helen ferngehalten hatte, und hätte er gewusst, wie viele Stunden um Stunden ihrer Lebensspanne er von ihr fernbleiben würde… Er wäre viel früher ausgestiegen.

»Nein«, gab er zurück. »Es gehörte nicht zu meinem Job. Das war nicht der Grund, warum ich hier war.«

»Na ja, aber man hat Sie doch hier um Hilfe gebeten. Sie hat Sie gebeten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie all das aus eigenem Antrieb getan haben. Den Plan gefasst haben oder was auch immer.«

»Doch, das habe ich.« Er sagte es mit Bitterkeit, und er bedauerte, dass er es überhaupt sagen musste. »Aber ich will, dass Sie wissen… Wenn mir klar gewesen wäre… Denn wissen Sie, Sie sind so gar nicht…«

»Wie sie?«, fragte sie. »Bin ich sauberer? Gebildeter? Gesellschaftsfähiger? Besser angezogen? Wortgewandter? Nun, ich hatte achtzehn Jahre Zeit, all das abzuschütteln, diese… Ich nenne es eine Episode. Dabei war es das gar nicht. Es war mein Leben. Es hat mich zu derjenigen gemacht, die ich nun mal bin, ganz gleich wer ich heute zu sein versuche. Diese Dinge definieren uns, Thomas, und sie haben mich definiert.«

»Wenn Sie das glauben, negieren Sie die letzten achtzehn Jahre Ihres Lebens«, konterte er. »Es negiert Ihre Eltern, deren Liebe für Sie, die Tatsache, dass sie Sie zum Teil ihrer Familie gemacht haben.«

»Sie haben meine Eltern doch gerade kennengelernt. Meine Familie gesehen. Und wie wir leben.«

»Ich meinte Ihre anderen Eltern. Die für Sie das waren, was Eltern immer sein sollten.«

»Die Trahairs? Ja. Aber sie ändern nichts an dem Rest, oder? Das können sie gar nicht. Der Rest ist… der Rest. Und er ist da und wird es immer sein.«

»Das ist kein Grund, beschämt zu sein.«

Sie sah ihn wieder an. Bei abgestelltem Motor standen sie endlich an einer Tankstelle, und ihre Hand lag am Türgriff, genau wie seine: Durch und durch Gentleman, war er unwillig, sie das Tanken selbst erledigen zu lassen.

»Das ist es ja gerade«, sagte sie.

»Was?«

»Menschen wie Sie…«

»Bitte nicht«, unterbrach er. »Es gibt keine Menschen wie mich. Es gibt nur Menschen. Es gibt nur die Summe menschlicher Erfahrungen, Daidre.«

»Menschen wie Sie«, fuhr sie beharrlich fort, »glauben, es ginge um Scham, denn das ist es, was Sie unter den gleichen Umständen empfinden würden. Das Umherziehen. Die meiste Zeit auf einer Müllhalde zu leben. Schlechtes Essen. Anderer Leute abgelegte Kleidung. Lose Zähne und deformierte Knochen. Schielende Augen und klebrige Finger. Wozu lesen und schreiben, wenn man doch stehlen kann? Das ist es, was Sie denken, und Sie liegen nicht einmal so falsch. Aber das Gefühl hat nicht das Geringste mit Scham zu tun, Thomas.«

»Sondern?«

»Trauer. Reue. Wie mein Name.«

»Also sind wir gleich, Sie und ich«, sagte er. »Trotz aller Unterschiede.«

Sie lachte. Es war ein einzelner, müder Laut. »Das sind wir nicht«, entgegnete sie. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie Zigeuner gespielt haben. Sie, Ihr Bruder, Ihre Schwester und Freunde. Vielleicht haben Ihre Eltern sogar mal einen Wohnwagen für Sie aufgetan und ihn irgendwo an verborgener Stelle auf Ihrem Landgut aufgestellt. Dort konnten Sie hingehen und sich verkleiden und Zigeuner spielen, aber Sie hätten es nie leben können.«

Sie stieg aus dem Wagen. Er folgte ihr. Sie ging zur Zapfsäule und betrachtete sie eingehend, als müsste sie erst noch entscheiden, welche Benzinsorte sie wollte. Als sie zögerte, griff er selbst nach dem Einfüllstutzen und begann, ihren Wagen zu betanken.

»Ich könnte mir vorstellen, dass das für gewöhnlich Ihr Diener für Sie tut.«

»Nicht«, bat er.

»Ich kann es nicht lassen«, bekannte sie. »Das werde ich nie können.«

Sie schüttelte den Kopf, kurz und heftig, als wollte sie alles verleugnen oder verneinen, was zwischen ihnen unausgesprochen geblieben war. Dann stieg sie wieder in den Wagen und schloss die Tür. Er sah, dass sie stur geradeaus stierte, als stünde etwas im Schaufenster der Tankstelle, was sie sich unbedingt einprägen musste.

Er ging zur Kasse hinüber. Als er wieder einstieg, fand er einen säuberlichen Stapel Geldscheine auf seinem Sitz. Er nahm sie, faltete sie in der Mitte und steckte sie in den leeren Aschenbecher über dem Schalthebel.

»Ich will nicht, dass Sie bezahlen, Thomas«, sagte sie.

»Ich weiß«, antwortete er. »Aber ich hoffe, Sie können mit der Tatsache leben, dass ich beabsichtige, es trotzdem zu tun.«

Sie startete den Motor und fuhr zurück auf die Straße. Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander, während die Landschaft draußen vorüberflog und der Abend sich wie ein fallender Schleier herabsenkte.

Schließlich stellte er die einzige Frage, die die Mühe wert schien. Es war die einzige Bitte, die sie ihm zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht nicht abschlagen würde. Er hatte schon einmal gefragt und einen Korb kassiert, aber er hatte das Gefühl, dass sie es sich dieses Mal vielleicht überlegen würde, selbst wenn er nicht hätte sagen können, wieso. Sie rumpelten über den Parkplatz des Salthouse Inn, wo sie ihren Tag begonnen hatten, als er ein letztes Mal das Wort ergriff: »Wollen Sie mich nicht Tommy nennen?«