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»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, erwiderte sie.

Er war nicht besonders hungrig, aber er wusste, er musste essen. Essen hieß leben, und es hatte den Anschein, als sei er dazu verdammt weiterzuleben, zumindest fürs Erste. Nachdem er Daidre nachgeblickt hatte, als sie davonfuhr, hatte er das Salthouse Inn betreten und war zu dem Schluss gekommen, dass er zwar dem Restaurant noch nicht gewachsen war, einem Snack an der Bar jedoch ins Auge sehen konnte. Er trat durch die niedrige Tür und stellte fest, dass Barbara Havers die gleiche Idee gehabt hatte. Sie saß in der ansonsten verwaisten Kaminecke, während die übrigen Gäste sich um die verschrammten Tische und die Theke scharten, hinter der Brian das Bier zapfte.

Lynley trat zu ihr, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Sie blickte von ihrem Teller auf. Shepherd's Pie, erkannte er. Mit den obligatorischen Beilagen aus gekochten Möhren, Blumenkohl, Brokkoli, Dosenerbsen und Pommes frites. Sie hatte alles mit Ketchup ertränkt bis auf die Möhren und die Erbsen. Die hatte sie beiseitegeschoben.

»Hat Ihre Mum Sie nicht dazu erzogen, Ihr Gemüse aufzuessen?«, fragte er.

»Das ist das Wunderbare daran, erwachsen zu sein«, gab sie zurück und häufte sich etwas von der Kartoffel- und Hackfleischfüllung auf die Gabel. »Man kann bestimmte Lebensmittel ein für alle Mal von seinem Speiseplan streichen.« Sie kaute versonnen und betrachtete ihn. »Und?«, fragte sie.

Er begann zu erzählen, und je länger er sprach, umso deutlicher ging ihm auf, dass er unbewusst und ungewollt einen neuen Abschnitt der Reise begonnen hatte, auf der er sich befand. Noch vor einer Woche hätte er überhaupt nicht geredet. Oder falls doch, dann hätte er versucht, die Konversation so knapp wie möglich zu halten.

»Ich konnte ihr einfach nicht klar machen«, schloss er, »dass diese Dinge… die Vergangenheit, ihre Familie oder zumindest die Leute, die ihre Erzeuger waren… dass es im Grunde alles keine Rolle spielt.«

»Natürlich nicht«, gab Havers leutselig zurück. »Absolut und ganz und gar nicht. Nie und nimmer. Und schon gar nicht für einen, der das nie erleben musste, Sir.«

»Havers, wir alle haben gewisse Dinge in unserer Vergangenheit…«

»Stimmt.« Sie spießte ein ketchupgetränktes Brokkoliröschen auf und entfernte sorgfältig eine Erbse, die sich hineingemogelt hatte. »Nur gehören gewisse goldene Löffel nicht zu unser aller Vergangenheit, wenn Sie wissen, was ich meine. Und wie heißen diese riesigen Dinger, die Leute wie Sie mitten auf dem Esstisch stehen haben? Sie wissen schon: ganz aus Silber und Tierfigürchen rundherum. Oder Weinranken mit Trauben. Oder weiß der Geier.«

»Tafelaufsatz«, antwortete er. »Man nennt es Tafelaufsatz. Aber Sie können doch unmöglich glauben, dass etwas so Bedeutungsloses wie ein Silberschmuck…«

»Nicht der Silberschmuck. Das Wort. Verstehen Sie? Sie wissen, wie es heißt. Glauben Sie, sie weiß es? Oder der Rest der Welt?«

»Darum geht es ja wohl nicht.«

»Doch, genau darum geht es. Es gibt Orte, die der Pöbel niemals zu Gesicht bekommen wird, und Ihr Speisezimmer zählt dazu.«

»Sie haben selbst schon darin gegessen.«

»Ich bin die Ausnahme. Menschen wie Sie finden meine Unwissenheit amüsant. "Sie kann ja nichts dafür", denken Sie. "Man muss bedenken, woher sie stammt", sagen Sie zu Ihresgleichen. Fast so, wie man sagt: "Die Ärmste weiß es nicht besser, sie ist Amerikanerin."«

»Moment mal, Havers. Ich habe niemals gedacht…«

»Spielt keine Rolle«, unterbrach sie ihn und wedelte mit ihrer Gabel. »Es ist mir egal, verstehen Sie. Es macht mir nichts aus.«

»Also…«

»Aber ihr macht es etwas aus. Und das ist es, was einen in Schwierigkeiten bringt: die Tatsache, dass es einem nicht gleichgültig ist. Wenn es einem egal wäre, könnte man in glückseliger Unwissenheit dahinleben oder wenigstens so tun. Wenn nicht, wird man ein nervöses Wrack und zermartert sich das Hirn über die Benimmregeln oder darüber, welches Besteck man benutzen muss. Sechzehn Messer und zweiundzwanzig Gabeln, also warum essen diese Leute den Spargel mit den Fingern?« Sie schauderte, häufte sich neuen Shepherd's Pie auf und spülte ihn mit einem Schluck Bier hinunter.

Er musterte sie einen Moment. »Havers, bilde ich mir das ein, oder haben Sie heute Abend ein bisschen mehr getrunken als üblich?«

»Wieso? Lalle ich?«

»So weit würde ich nicht gehen, aber…«

»Das hab ich mir verdient. Einen anständigen Drink. Oder auch fünfzehn, wenn's nötig ist. Ich muss nicht mehr Auto fahren, und die Treppe werde ich es wohl noch hinaufschaffen. So gerade.«

»Was ist los?«, fragte er. Es sah Havers nicht ähnlich, sich zu betrinken. Ein Bier pro Woche war normalerweise eher ihr Pensum.

Und dann erzählte sie ihm von Jago Reeth, Benesek Kerne, Hedras Hütte die sie als "so 'n beknackten Schuppen oben auf der Klippe, wo wir alle hätten umkommen können" beschrieb und von dem Ergebnis, das gar kein Ergebnis war. Jonathan Parsons und Pengelly Cove, Santo Kerne und…

»Wollen Sie etwa sagen, er hat ein Geständnis abgelegt?«, fragte Lynckley. »Bemerkenswert.«

»Sir, Ihnen entgeht das Wesentliche. Er hat kein Geständnis abgelegt. Er hat Annahmen aufgestellt. Er hat dies angenommen und jenes angenommen, und zum Schluss hat er angenommen, dass er einfach aus der Hütte stolziert und seiner Wege geht. Rache ist süß und der ganze Mist.«

»Und das war alles?«, fragte er. »Was hat Hannaford getan?«

»Was hätte sie denn tun sollen? Oder sonst irgendwer? Wenn das hier irgendein alter Grieche geschrieben hätte, könnten wir vielleicht hoffen, dass Thor ihn in den nächsten ein, zwei Tagen mit dem Blitz erschlägt, aber damit können wir wohl nicht rechnen.«

»Du meine Güte…«, murmelte Lynley, und nach einem Moment fügte er hinzu: »Zeus.«

»Was?«

»Zeus, Havers. Thor ist ein nordischer Gott, Zeus der griechische.«

»Wie auch immer, Sir. Wie wir beide wissen, gehöre ich schließlich zum Pöbel. Aber die Sache ist die: Die Griechen sind hier nicht mit von der Partie, und darum kommt er davon. Hannaford will an ihm dranbleiben, aber sie hat absolut nichts in der Hand. Dank McNulty, diesem Vollidioten, dessen Beitrag zur Ermittlung offenbar nur aus einem Surfposter bestand. Abgesehen davon, dass er Informationen ausgeplaudert hat, als er die Klappe hätte halten müssen. Es ist ein Riesenschlamassel, und ich bin froh, dass ich nicht dafür verantwortlich bin.«

Lynley atmete tief aus. »Schrecklich für die Familie«, sagte er.

»Allerdings«, stimmte sie zu. Sie studierte sein Gesicht. »Essen Sie was, Sir?«

»Ich hatte mit dem Gedanken gespielt«, räumte er ein. »Wie ist der Shepherd's Pie?«

»Wie Shepherd's Pie eben so ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man bei Shepherd's Pie als Pubsnack keine zu hohen Erwartungen haben darf. Sagen wir's so: Jamie Oliver hat hier keine Konkurrenz zu befürchten.« Sie spießte eine Kostprobe auf und reichte ihm die Gabel hinüber.

Er nahm sie und aß. Ausreichend, befand er. Er wollte schon aufstehen, um sich an der Bar eine Portion zu bestellen, doch ihre nächsten Worte ließen ihn innehalten.

»Sir, kann ich Sie was fragen?« Sie sprach so behutsam, dass er wusste, was kommen würde.

»Ja?«

»Kommen Sie mit mir zurück nach London?«

Er setzte sich wieder hin. Er sah nicht sie, sondern ihren Teller an: die Reste des Shepherd's Pie und die sorgsam aussortierten Erbsen und Möhren. Typisch Havers, dachte er. Die Menüwahl, die Möhren, die Erbsen, die Unterhaltung, die sie geführt hatten, und nun diese Frage.

»Havers…«

»Bitte«, sagte sie.