Als er früher am Tag zum ersten Mal im Salthouse Inn gewesen war, hatten nur einige wenige Nachmittagstrinker die Bar bevölkert. Inzwischen waren die Abendgäste in Scharen erschienen, und Lynley musste sich durch die Reihen und ihr Schweigen zum Tresen vorkämpfen. Er wusste, es war mehr als nur seine äußere Erscheinung, die ihn interessant machte. Zum Beispiel sein Geruch: seit sieben Wochen von Kopf bis Fuß ungewaschen. Unrasiert und ungeschoren überdies.
Der Wirt den Daidre Trahair Brian genannt hatte, wie er sich entsann, erinnerte sich offenbar an seinen früheren Besuch, denn er fragte in die Stille hinein: »War's Santo Kerne da draußen auf den Klippen?«
»Ich fürchte, ich weiß nicht, um wen es sich handelt. Aber es war ein junger Mann. Ein Teenager. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
Ein Raunen erhob sich und verebbte wieder. Lynley hörte mehrfach den Namen Santo. Er warf einen Blick über die Schulter. Dutzende Augenpaare jung, alt und irgendwo dazwischen waren auf ihn gerichtet.
Er fragte Brian: »Dieser Junge, Santo, ist er bekannt in der Gegend?«
»Er lebt hier«, lautete die wenig hilfreiche Antwort. Das war offenbar alles, was Brian einem Fremden zu eröffnen bereit war. »Wollen Sie etwas trinken?«, erkundigte er sich.
Als Lynley stattdessen um ein Zimmer bat, stellte er fest, dass Brian ausgesprochen zögerlich war, dem Wunsch nachzukommen. Lynley deutete dies vermutlich zu Recht als Unwillen, eine heruntergekommene Gestalt wie ihn in Kontakt mit den Laken und Kissen des Hotels kommen zu lassen. Gott allein mochte wissen, welches Ungeziefer er da anschleppte. Doch der Unterhaltungswert, den er als fremdes Gesicht im Salthouse Inn hatte, sprach für ihn. Seine Erscheinung stand in völligem Widerspruch zu seinem Akzent und seiner Wortwahl, und das verlieh ihm eine unwiderstehliche Faszination, ganz zu schweigen von dem Umstand, dass er den Toten gefunden hatte, der vermutlich vor seinem Eintreten das Gesprächsthema der Gäste gewesen war.
»Nur ein kleines Zimmer«, antwortete der Wirt. »Aber das sind sie alle. Klein. Als das Haus gebaut wurde, waren die Menschen noch nicht so anspruchsvoll.«
Lynley versicherte, dass die Größe belanglos und er für alles dankbar sei, ganz gleich was das Hotel ihm zu bieten habe. Er wisse nicht, wie lange er das Zimmer benötigen werde, fügte er hinzu. Anscheinend bestehe die Polizei darauf, dass er hierbleibe, bis die Angelegenheit mit dem jungen Mann in der Bucht entschieden sei.
Wieder erhob sich Gemurmel. Es war das Wort "entschieden" und alles, was es implizierte.
Brian schob mit der Schuhspitze eine Tür am hinteren Ende des Tresens auf und sprach ein paar Worte in den angrenzenden Raum. Daraufhin kam eine Frau mittleren Alters heraus — die Köchin, nach der fleckigen weißen Schürze zu urteilen, die sie hastig abnahm. Darunter trug sie einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Und bequeme Schuhe.
Sie werde ihn nach oben zu seinem Zimmer bringen, sagte sie. Sie verhielt sich geschäftsmäßig, so als fände sie nichts Merkwürdiges an ihm. Das Zimmer liege über dem Restaurant, nicht über der Bar, fuhr sie fort; er werde also seine Ruhe haben. Man könne dort gut schlafen.
Sie wartete keine Antwort ab. Seine Meinung interessierte sie nicht. Seine Anwesenheit bedeutete Kundschaft, und die war vor dem späten Frühling und Sommer schwer zu finden. Man musste nehmen, was man kriegen konnte, ohne Fragen zu stellen.
Sie ging auf eine weitere Tür am anderen Ende der Gaststube zu. Diese führte auf einen eisigen Flur. Das Restaurant menschenleer lag auf der anderen Seite dieses Korridors. Eine Treppe am Ende, die etwa so breit war wie ein Koffer, führte ins Obergeschoss. Kaum vorstellbar, wie jemals Möbel nach oben geschafft worden waren.
Es gab nur drei Zimmer im ersten Stock, und Lynley hatte die freie Auswahl, auch wenn seine Begleiterin, die sich als Siobhan Rourke und Brians langjährige und anscheinend leidgeprüfte Partnerin vorstellte, das kleinste empfahl, denn es sei dasjenige über dem Restaurant, von dem sie gesprochen habe. Für sämtliche Zimmer gebe es nur ein Gemeinschaftsbad, teilte sie ihm mit, aber das sei nicht weiter relevant, da derzeit keine anderen Gäste hier seien.
Lynley war es gleichgültig, welches Zimmer er bekam, also wies er auf das erste, und Siobhan öffnete die Tür. Es sei vollkommen ausreichend, versicherte er ihr. Das Zimmer passte zu ihm: Es war nicht wesentlich größer als eine Gefängniszelle, möbliert mit einem Einzelbett, einem Schrank und einer Frisierkommode unter einem winzigen Flügelfenster mit Bleiverglasung. Die einzigen Zugeständnisse an moderne Zeiten waren ein Waschbecken in der Ecke und ein Telefon auf der Kommode. Letzteres wirkte beinah schon wie ein störender Anachronismus in diesem Kämmerchen, das vor zweihundert Jahren eine Dienstmagd beherbergt haben mochte.
Nur in der Zimmermitte konnte Lynley wirklich aufrecht stehen. Als Siobhan das auffiel, bemerkte sie: »Damals waren die Leute kleiner. Vielleicht ist das hier doch nicht so ganz das Richtige, Mr.…«
»Lynley«, antwortete er. »Das Zimmer ist vollkommen in Ordnung. Funktioniert das Telefon?«
»Aber selbstverständlich. Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Handtücher sind im Schrank, Seife und Shampoo im Bad.« Der letzte Satz klang, als wolle sie ihn ermutigen, davon Gebrauch zu machen. »Und wenn Sie etwas essen möchten, lässt sich das auch einrichten. Hier oben. Oder natürlich auch unten im Restaurant, wenn Sie das wünschen«, fügte sie noch hastig hinzu, doch es war offensichtlich, was sie meinte: Je seltener er sich unten blicken ließe, umso glücklicher wären der Wirt und die Wirtin.
Er wiegelte ab, er sei nicht hungrig, was auch mehr oder minder der Wahrheit entsprach. Daraufhin verabschiedete sie sich.
Als die Tür sich geschlossen hatte, schaute er auf das Bett hinab. Es war fast zwei Monate her, seit er zuletzt in einem gelegen hatte, auch wenn er darin nicht gerade viel Schlaf gefunden hatte. Wenn er schlief, träumte er, und ihm graute vor seinen Träumen. Nicht weil sie so erschütternd waren, sondern weil sie irgendwann ein Ende nahmen. Er hatte festgestellt, dass es erträglicher war, überhaupt nicht zu schlafen.
Weil es keinen Sinn hatte, es vor sich herzuschieben, griff er zum Telefon und tippte die Nummer ein. Er hoffte, dass niemand zu Hause sein und der Anrufbeantworter sich einschalten würde, sodass er eine kurze Nachricht hinterlassen konnte. Doch nach dem fünften Läuten hörte er ihre Stimme. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu sprechen.
»Mutter. Hallo.«
Zuerst herrschte Stille am anderen Ende, und er wusste genau, was sie tat: Sie stand am Telefon im Salon oder vielleicht in ihrem Morgenzimmer oder wo auch immer in dem riesigen herrschaftlichen Haus, welches sein Geburtsrecht und mehr noch sein Fluch war, hob eine Hand an die Lippen und sah denjenigen an, der sich mit ihr im Raum befand: wahrscheinlich sein jüngerer Bruder oder vielleicht der Gutsverwalter oder womöglich gar seine Schwester, falls sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch nicht nach Yorkshire zurückgekehrt war. Und ihre Augen die Augen seiner Mutter verkündeten die Nachricht, noch ehe sie seinen Namen aussprach. Es ist Tommy! Er hat angerufen! Gott sei Dank, er lebt.
»Liebling. Wo bist du? Wie geht es dir?«
Er erwiderte: »Ich bin da in etwas hineingeraten… oben in Casvelyn.«
»Mein Gott, Tommy! Bist du so weit gelaufen? Weißt du eigentlich, wie…« Dann unterbrach sie sich. Was sie hatte fragen wollen, war, ob er wüsste, wie besorgt sie gewesen seien. Aber sie liebte ihn, und darum wollte sie ihm keine weitere Bürde auferlegen.
Weil er sie ebenso liebte, antwortete er trotzdem. »Ich weiß. Wirklich. Bitte versteh das. Es ist einfach so, dass ich unfähig scheine, meinen Weg zu finden.«
Sie wusste natürlich, dass er nicht von mangelndem Orientierungssinn sprach. »Mein Junge, wenn ich irgendetwas tun könnte, um dir das abzunehmen…«