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Er konnte die Wärme in ihrer Stimme, ihr unerschöpfliches Mitgefühl kaum ertragen, vor allem da sie selbst im Laufe der Jahre so viele Tragödien hatte erdulden müssen. »Tja…« Er räusperte sich.

»Alle möglichen Leute haben angerufen«, erzählte sie. »Ich habe eine Liste erstellt. Und sie hören nicht auf anzurufen, wie man es doch erwarten würde. Du weißt, was ich meine: Ein Anruf, und damit ist die Pflicht getan. So war es nicht. So viele Menschen sind in Sorge um dich. Du wirst so geliebt, mein Junge.«

Er wollte das nicht hören, und das musste er ihr begreiflich machen. Es war nicht so, dass er die Anteilnahme seiner Freunde und Bekannten nicht zu schätzen wüsste. Nur rührte diese Anteilnahme und schlimmer noch: der Ausdruck dieser Anteilnahme an eine Stelle in seinem Innern, die bereits so wund war, dass jede weitere Bekundung an Folter grenzte. Deswegen hatte er sein Zuhause verlassen, denn im März war der Küstenpfad menschenleer, und auch im April waren dort nur wenige unterwegs, und selbst wenn er jemandem begegnete, so wusste dieser Mensch doch nichts von ihm oder davon, was er tat, warum er Tag für Tag weiterlief oder was ihn zu dieser Entscheidung getrieben hatte.

»Mutter…«

Wie immer hörte sie aus seiner Stimme alles heraus. »Mein Liebling, es tut mir leid. Reden wir nicht mehr davon.« Ihr Tonfall veränderte sich, wurde geschäftsmäßiger, und dafür war er dankbar. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Du bist doch unversehrt, oder? Nicht verletzt?«

Nein, er sei nicht verletzt, versicherte er, aber er habe jemanden gefunden, der einen Unfall erlitten hatte. Er sei anscheinend der Erste am Unfallort gewesen. Das Opfer sei ein Junge. Er sei von einer Klippe zu Tode gestürzt. Jetzt ermittele die Polizei. Und er habe alles zu Hause gelassen, womit er sich ausweisen könne. »Würdest du mir bitte meine Brieftasche schicken? Es ist eine reine Formsache, nehme ich an. Sie untersuchen die näheren Umstände. Es sieht aus wie ein Unfall, aber ehe das nicht sicher ist, will die Polizei natürlich nicht, dass ich weiterziehe. Und ich muss beweisen, dass ich derjenige bin, für den ich mich ausgebe.«

»Wissen sie, dass du Polizist bist, Tommy?«

»Einer weiß offenbar davon. Ich habe ihnen lediglich meinen Namen gesagt.«

»Nichts sonst?«

»Nein.« Es hätte die ganze Geschichte in ein viktorianisches Melodrama verwandelt: Mein guter Mann oder in diesem Fall Frau, wissen Sie eigentlich, wen Sie hier vor sich haben? Er hätte seinen Rang genannt, und wenn das nicht ausgereicht hätte, um Eindruck zu schinden, seinen Titel. Und der hätte gewiss alle strammstehen lassen, wenn auch sonst nichts dabei herausgekommen wäre. Allerdings schien Detective Inspector Hannaford nicht unbedingt der Typ zum Strammstehen zu sein.

»Sie sind nicht gewillt, mir einfach zu glauben, was ich sage, und das kann man ihnen wohl kaum verübeln. Ich würde mir auch nicht glauben. Schickst du mir bitte meine Brieftasche?«

»Natürlich. Sofort. Soll Peter morgen früh damit zu dir fahren?«

Er glaubte nicht, dass er die ängstliche Besorgnis seines Bruders würde ertragen können. »Aber nein, es ist nicht nötig, dass er sich die Mühe macht«, versicherte er. »Schick sie einfach mit der Post.«

Er nannte ihr die Adresse, und sie fragte, wie es typisch für sie war, ob das Hotel wenigstens ansprechend sei, das Zimmer behaglich und das Bett lang genug. Er sagte, es sei alles in Ordnung. Und er freue sich auf ein Bad.

Das beruhigte seine Mutter ein wenig, auch wenn es sie nicht gänzlich zufriedenstellte, bewies der Wunsch nach einem Bad vielleicht auch nicht unbedingt den Entschluss weiterzuleben, so doch zumindest seine Bereitschaft, sich noch ein Weilchen länger mit dem Leben herumzuplagen. Das genügte ihr fürs Erste. Sie verabschiedete sich, nachdem sie ihm aufgetragen hatte, sich ein langes, gemütliches Bad zu gönnen, und seine Versicherung gehört hatte, dass genau dies seine Absicht sei.

Er stellte das Telefon zurück auf die Kommode. Dann wandte er sich um, und weil ihm nichts anderes übrig blieb, nahm er das Zimmer in Augenschein: das Bett, das winzige Waschbecken in der Ecke. Er musste feststellen, dass seine Schutzwälle eingerissen waren. Das Telefonat mit seiner Mutter hatte dazu geführt und plötzlich hörte er ihre Stimme. Nicht die seiner Mutter, sondern Helens. Nun, es ist ein wenig… monastisch, Tommy, findest du nicht? Ich fühle mich schon wie eine Nonne: entschlossen, keusch zu bleiben, aber der unwiderstehlichen Versuchung ausgesetzt, sehr, sehr unartig zu sein…

Er hörte sie so deutlich. Diese unverwechselbare Helen-Eigenart. Den Unfug, der ihn von sich selbst ablenkte, wenn es am nötigsten war. Sie hatte immer intuitiv gewusst, wann dieser Zeitpunkt gekommen war. Ein Blick in sein Gesicht, wenn er abends heimkam, und sie wusste, was er brauchte. Das war ihr Talent gewesen: Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Manchmal waren es die Berührung ihrer Hand auf seiner Wange und die vier Worte: »Erzähl es mir, Liebling.« Dann wieder war es die gespielte Frivolität, die seine Anspannung vertrieb und ihn zum Lachen brachte.

In die Stille hinein flüsterte er: »Helen.« Aber das war auch schon alles, was er sagen konnte. Weiter war er mit der Anstrengung, seinen Verlust zu begreifen, noch nicht gekommen.

Daidre kehrte nicht zu ihrem Cottage zurück, nachdem sie Thomas Lynley am Salthouse Inn abgesetzt hatte. Stattdessen fuhr sie nach Osten. Die Straße, die sie wählte, schlängelte sich wie ein verworrenes Stück Garn durch die diesige Landschaft. Sie führte durch mehrеre Weiler, wo Lichter durch die Fenster der Höfe schienen, durch zwei Waldstücke und schließlich zwischen einem Farmhaus und seinen Nebengebäuden hindurch und mündete am Ende in die A388. Dieser folgte sie in südlicher Richtung, bog dann auf eine Nebenstraße nach Osten ab, die durch Weideland führte, wo Schafe und Milchkühe grasten. Sie nahm die Abfahrt, an der ein Schild in Richtung Cornish Gold wies. Unter dem Namen stand: "Besucher willkommen".

Cornish Gold war eine Farm, die eine halbe Meile den engen Feldweg hinunter lag und hauptsächlich aus Wiesen voller Apfelbäumen bestand, welche von Pflaumenbäumen umgeben waren, die man vor vielen Jahren als Windschutz angepflanzt hatte. Die Obstwiesen begannen auf der Kuppe eines Hügels und erstreckten sich in einem Fächer von beeindruckender Größe hügelabwärts. Davor erhoben sich zwei alte Scheunen aus Bruchstein, denen eine Ciderkelterei und ein kopfsteingepflasterter Hof gegenüberlagen. Mitten auf diesem Hof befand sich ein exakt quadratischer Pferch, aus dem ein Schnaufen und Schnüffeln zu vernehmen waren. Der Quell dieser Laute war der vorgebliche Grund für Daidres Besuch, sollte irgendwer außer der Farmbesitzerin sich danach erkundigen. Es handelte sich um ein großes und ganz entschieden unfreundliches Schwein der Rasse Gloucester Old Spot, das der ursprüngliche Anlass für Daidres Bekanntschaft mit der Eigentümerin der Ciderfarm gewesen war, kurz nachdem die Frau sich in diesem Teil der Welt niedergelassen hatte am Ende einer dreißigjährigen Odyssee, die sie von Griechenland über London und St. Ives auf diese Farm geführt hatte.

Das Schwein wartete bereits am Rand des Pferchs auf Daidre. Sein Name war Stamos, benannt nach dem Exmann seiner Besitzerin. Stamos, das Schwein, war ein unverbesserlicher Optimist und alles andere als töricht. Sowie Daidre auf den Hof fuhr, tapste es erwartungsvoll zum Zaun hinüber. Doch heute hatte sie nichts für das Schwein dabei. In ihrem Cottage eine geschälte Orange einzupacken, war ihr nicht ratsam erschienen, solange die Polizei noch dort gewesen war und mit Argusaugen jede ihrer Bewegungen verfolgt hatte.

»Tut mir leid, Stamos«, entschuldigte sie sich. »Aber lass mich trotzdem einen Blick auf dein Ohr werfen. Ja, ja, das ist doch nur Getue! Du bist völlig wiederhergestellt, und das weißt du genau. Du bist cleverer, als gut für dich ist, stimmt's?«