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Doch heute Abend war er abgelenkt. Er war nicht allein mit Cadan im Zimmer, und die anderen drei Personen waren offenbar interessanter als die Chips. Auf einem kleinen Gummiball den Kaminsims entlangzubalancieren, war einfach weniger verlockend als der Lutscher in der Hand eines sechsjährigen Mädchens. Denn wenn man den Papagei mit dem Lutscherstiel an der richtigen Stelle liebkoste, nämlich dort, wo man seine Ohren vermutete, garantierte das Ekstase. Ein Schinkenchip hingegen versprach lediglich eine kurze Gaumenfreude. So kam es, dass Cadan sich zwar heldenhaft, aber vergebens bemühte, Ione Soutar und ihre zwei Töchter zu unterhalten, weil Pooh sich störrisch weigerte, besagte Unterhaltung zu liefern.

»Warum will er denn nicht, Cadan?«, fragte Jennie Soutar. Sie war die Jüngere der beiden. Ihre große Schwester Leigh, die mit zehn Jahren schon Glitzerlidschatten, Lippenstift und Haarverlängerungen trug, sah so aus, als hätte sie ohnehin nicht daran geglaubt, dass der Vogel überhaupt irgendetwas Besonderes könnte und es kümmerte sie auch nicht, denn er war ja schließlich kein Popstar und würde auch nie einer werden. Statt der missglückten Papageienvorstellung zu folgen, blätterte sie in einer Modezeitschrift und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Bilder; sie weigerte sich stur, eine Brille zu tragen, und versuchte beharrlich, ihre Mutter zu überreden, ihr Kontaktlinsen zu kaufen bislang jedoch ohne Erfolg.

»Es liegt an dem Lutscher«, erklärte Cadan. »Er hat ihn genau gesehen. Er will damit gekitzelt werden.«

»Darf ich ihn streicheln? Kann ich ihn halten?«

»Jennifer, du weißt, was ich von diesem Vogel halte.« Das war ihre Mutter. Ione Soutar stand am Erkerfenster und schaute auf die Victoria Road hinaus. Das tat sie seit dreißig Minuten, und sie sah nicht so aus, als wollte sie bald damit aufhören. »Vögel übertragen alle möglichen Krankheiten und Ungeziefer.«

»Aber Cadan fasst ihn doch auch an!«

Ione warf ihrer Tochter einen Blick zu, der zu sagen schien: Und schau dir Cadan doch bitte einmal an!

Jennie interpretierte den Gesichtsausdruck ihrer Mutter genau so, wie diese es beabsichtigt hatte. Sie warf sich zurück ins Sofa, die Beine vor sich ausgestreckt, und machte einen Schmollmund die Mimik, so stellte Cadan verblüfft fest, eine unbeabsichtigte Imitation ihrer Mutter. Zweifellos war das Gefühl, das ihr zugrunde lag, ebenfalls das gleiche: Enttäuschung. Cadan war versucht, Ione Soutar zu erklären, dass sie auch weiterhin enttäuscht würde, so lange sie die Absicht hatte, seinen Vater zu heiraten. Oberflächlich betrachtet, sah es so aus, als passten die beiden perfekt zusammen: zwei unabhängige Geschäftsleute mit Werkstätten, die nicht weit auseinander am Binner Down lagen, beides Eltern, die seit Jahren ohne Partner lebten, beide surften, sie hatten jeweils zwei Kinder, zwei davon Mädchen, die sich ebenfalls fürs Surfen interessierten, und ein drittes, älteres Mädchen, das als Vorbild und Lehrerin fungieren konnte, sie waren familienorientiert… vermutlich hatten sie obendrein guten Sex, aber darüber wollte Cadan lieber nicht nachdenken, denn die Vorstellung von seinem Vater in leidenschaftlicher Umarmung mit Ione verursachte ihm eine Gänsehaut. Der äußere Anschein hätte tatsächlich den Schluss nahegelegt, dass diese Beziehung nach nunmehr drei Jahren zu einer gewissen Bindungswilligkeit bei Lew Angarrack hätte führen können. Aber das war nicht der Fall, und Cadan hatte genug Telefonate mitangehört jedenfalls was den Part seines Vaters anging, um zu wissen, dass Ione mit der Situation nicht länger zufrieden war.

Gerade jetzt war sie außerdem auch noch sauer. Zwei Pukka-Pizzas standen in der Küche und waren längst kalt geworden, während sie auf Lews Heimkehr wartete. Ihr Warten erschien Cadan von Minute zu Minute sinnloser. Sein Vater hatte geduscht, sich umgezogen und war zu einer ganz und gar vergeblichen Mission aufgebrochen.

Cadan hatte den Eindruck, dass der Grund für Lews plötzlichen Aufbruch Will Mendicks Besuch gewesen war. Will war in seinem asthmatischen, alten Käfer die Victoria Road heraufgekommen, und als er seine schlaksige Gestalt aus dem Wagen geschält und an der Haustür geklopft hatte, hatte Cadan ihm schon an seinem geröteten Gesicht angesehen, dass ihm etwas auf der Seele lag.

Will hatte ohne Umschweife nach Madlyn gefragt, und als Cadan entgegnete, sie sei nicht zu Hause, fragte Wilclass="underline" »Wo ist sie denn dann? In der Bäckerei war sie auch nicht.«

»Noch haben wir sie nicht mit einem Peilsender versehen, Will«, erklärte Cadan. »Das machen wir erst nächste Woche.«

Will war anscheinend nicht nach Scherzen zumute. »Ich muss sie finden.«

»Warum?«

Also erzählte Will, was er im Clean-Barrel-Surfshop erfahren hatte: Santo Kerne war tot, sein Schädel zermatscht oder was immer passierte, wenn man beim Abseilen stürzte.

»Er ist allein geklettert?« Dass er überhaupt klettern gewesen war, schien merkwürdig; Cadan wusste, was Santo Kerne in Wirklichkeit am liebsten tat, nämlich surfen und vögeln und vögeln und surfen, und beides fiel ihm mühelos zu.

»Ich hab nichts davon gesagt, dass er allein war«, entgegnete Will scharf. »Ich weiß nicht, ob jemand bei ihm war, und wenn ja, wer. Wie kommst du darauf, dass er allein war?«

Cadan musste nicht antworten, denn Lew hatte offenbar Wills Stimme gehört und aus dem Tonfall herausgelesen, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein musste. Er war aus dem rückwärtigen Teil des Hauses gekommen, wo er am Computer gearbeitet hatte, und Will setzte auch ihn ins Bild. »Ich bin hier, um es Madlyn zu sagen«, erklärte er.

Oh, klar doch, dachte Cadan. Jetzt war der Weg zu Madlyn frei, und Will war kein Typ, der an einer offenen Tür achtlos vorüberging.

»Verdammt«, murmelte Lew nachdenklich. »Santo Kerne.«

Die Nachricht hat keinen von uns übermäßig erschüttert, gestand Cadan sich im Stillen ein. Er selbst war vielleicht noch am meisten betroffen, aber das lag daran, dass für ihn dabei am wenigsten auf dem Spiel stand.

»Dann mach ich mich mal auf die Suche nach ihr«, hatte Will Mendick gesagt. »Habt ihr eine Ahnung, wo…«

Wer konnte das schon wissen? Madlyn hatte seit der Trennung von Santo eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchgemacht. Zuerst war sie untröstlich gewesen, dann war der Kummer einem blinden und rasenden Zorn gewichen. Cadan war in dieser Zeit dankbar gewesen für jeden Augenblick, den er nicht mit seiner Schwester hatte verbringen müssen, bis sie die obligatorische letzte Phase Rachedurst durchlaufen hatte und wieder normal geworden war. Sie konnte gerade überall sein und alles Mögliche tun: Banken ausrauben, Fenster zertrümmern, Männer in Pubs aufreißen, sich die Augenlider tätowieren lassen, kleine Kinder verprügeln oder surfen in unbekannten Gefilden. Bei Madlyn konnte man das einfach nie wissen.

»Seit dem Frühstück haben wir sie nicht mehr gesehen«, murmelte Lew.

»Mist.« Will knabberte an seinem Daumen. »Aber irgendwer muss ihr doch sagen, was passiert ist.«

Wieso eigentlich?, dachte Cadan, aber er sprach es nicht aus. Stattdessen fragte er: »Und du meinst, das solltest ausgerechnet du tun?« Und unklugerweise fügte er hinzu: »Wach endlich auf, Mann. Wann kapierst du es endlich? Du bist nicht ihr Typ.«

Wills Teint wurde zusehends dunkler, was seine Pickel unvorteilhaft betonte.

»Cadan«, mahnte Lew.

»Ist doch wahr«, protestierte Cadan. »Komm schon, Mann…«

Will hatte keine Lust, sich den Rest von Cadans Tirade auch noch anzuhören. Er war aus dem Zimmer und zur Tür hinaus, noch ehe Cadan ein weiteres Wort sagen konnte.