»Herrgott noch mal!«, schimpfte Lew sein väterlicher Kommentar zu Cadans Taktgefühl. Dann ging er nach oben, um zu duschen.
Nach dem Surfen war er noch nicht unter der Dusche gewesen, darum hatte Cadan angenommen, sein Vater wollte sich wie üblich erst mal Sand und Salz von der Haut waschen. Aber dann hatte er das Haus verlassen und war bislang nicht wieder zurückgekommen. Das hatte Cadan in die Verlegenheit gebracht, Ione und ihre Töchter bei Laune halten zu müssen, während sie auf seinen Vater warteten.
»Er sucht Madlyn«, hatte Cadan der Freundin seines Vaters erklärt. Er hatte sie knapp über Santo in Kenntnis gesetzt, aber mehr hatte er nicht gesagt. Ione war über die Sache mit Madlyn und Santo längst im Bilde. Mit Lew Angarrack zusammen zu sein und das nicht mitzubekommen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Das verhinderte allein schon Madlyns überentwickelte Neigung zu dramatischen Auftritten.
Ione war in die Küche gegangen, hatte die Pizza abgelegt, den Tisch gedeckt und einen gemischten Salat angerichtet. Dann war sie ins Wohnzimmer zurückgekommen. Nach vierzig Minuten wählte sie Lews Handynummer. Wenn er das Telefon bei sich trug, war es jedenfalls nicht eingeschaltet.
»Wie kann man nur so blöd sein«, bemerkte sie. »Was, wenn Madlyn nach Hause kommt, während er noch unterwegs ist, um sie zu suchen? Wie sollen wir ihn dann erreichen?«
»Daran hat er wahrscheinlich nicht gedacht«, erklärte Cadan. »Er ist Hals über Kopf losgestürmt.«
Das stimmte nicht ganz, aber es schien… na ja, glaubwürdiger, dass ein besorgter Vater überstürzt aufbrach, und nicht so wie Lew es getan hatte, nämlich in aller Seelenruhe, als wäre er in irgendeiner Frage zu einem düsteren Schluss gekommen oder wüsste irgendetwas, was sonst niemand wusste.
Leigh hatte inzwischen ihre Zeitschrift durchgeblättert und meldete sich zu Wort mit diesem bizarren Tonfall, den nur Teenager beherrschen, die sich zu viele schlechte Serien im Fernsehen anschauen. »Mum, ich hab Hunger«, verkündete sie. »Ich bin total ausgehungert, okay? Guck mal auf die Uhr, ja? Essen wir vielleicht mal bald?«
»Willst du Schinkenchips?«, bot Cadan an.
»Igitt!«, erwiderte Leigh. »Junkfood?«
»Und was genau ist Pizza?«, fragte Cadan höflich.
»Pizza hat einen hohen Nährwert, okay?«, belehrte Leigh ihn. »Sie enthält mindestens zwei Nahrungsgruppen, und außerdem hatte ich nicht vor, mehr als ein Stück davon zu essen, okay?«
»Verstehe«, antwortete Cadan. Er hatte schon des Öfteren Gelegenheit gehabt, Leigh bei der Nahrungsaufnahme zu beobachten, und er wusste genau, wenn es um Pizza ging, vergaß sie regelmäßig, dass sie die neue Kate Moss werden wollte. Der Tag, an dem sie sich auf ein einziges Stück Pizza beschränkte, würde der Tag sein, da die Schweine scharenweise das Fliegen lernten.
»Ich hab auch Hunger«, sagte Jennie. »Können wir schon mal essen, Mummy?«
Ione warf einen letzten, resignierten Blick auf die Straße. »Meinetwegen«, antwortete sie.
Sie ging in die Küche. Jennie hüpfte vom Sofa, folgte ihrer Mutter und kratzte sich unterwegs am Hintern. Leigh bildete das Schlusslicht, und als zöge sie auf einem Catwalk ihre Kreise, bedachte sie Cadan im Vorbeigehen mit einem vernichtenden Blick. »Was für ein dämlicher Vogel! Der kann ja nicht mal sprechen. Was für 'n Papagei ist denn das, der nicht mal spricht?«
»Einer, der sich sein Vokabular für intelligentere Unterhaltungen aufspart«, teilte Cadan ihr mit.
Leigh streckte ihm die Zunge heraus und verließ das Wohnzimmer.
Nach einer freudlosen Mahlzeit aus Pizza, die zu lange herumgestanden hatte, und einem Salat, den eine Köchin, die in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war, mit zu viel Essig verdorben hatte, erbot sich Cadan, den Abwasch zu übernehmen. Er hoffte, Ione und ihre Brut auf diese Weise loszuwerden. Doch weit gefehlt. Sie blieb noch volle neunzig Minuten, setzte Cadan während dieser Zeit Leighs schnippischen Kommentaren zu seinen Spülkünsten aus und rief weitere viermal auf Lews Handy an, ehe sie endlich mitsamt ihren Töchtern verschwand.
Cadan blieb sich selbst und seinen Gedanken überlassen, und er fühlte sich dabei nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Er war mehr als erleichtert, als das Telefon klingelte und er endlich erfuhr, wo Madlyn steckte. Weniger erleichtert war er indes darüber, dass der Anrufer mitnichten sein Vater war. Und er war regelrecht beunruhigt, als er mit einer beiläufig eingestreuten Frage in Erfahrung brachte, dass sein Vater auf der Suche nach Madlyn noch nicht einmal bei dem Anrufer vorbeigeschaut hatte. Er war kurz davor, die Nerven zu verlieren — ein Zustand, über den er lieber gar nicht nachdenken wollte. Als sein Vater kurz nach Mitternacht nach Hause kam, war Cadan entsprechend sauer auf ihn, weil er dieserart Gefühle in ihm hervorgebracht hatte.
Er hatte vor dem Fernseher gesessen, als die Küchentür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann war Lew an der Wohnzimmertür erschienen, aber im Schatten des Flurs stehen geblieben.
Ohne sich nach ihm umzudrehen, sagte Cadan knapp: »Sie ist bei Jago.«
»Was?«
»Madlyn«, erwiderte Cadan. »Sie ist bei Jago. Er hat angerufen. Er sagt, sie schläft.«
Sein Vater zeigte keinerlei Reaktion. Cadan überlief ein eisiger Schauer, ohne dass er so recht verstand, warum. Um nicht weiter über die Teilnahmslosigkeit seines Vaters nachdenken zu müssen, griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
»Du wolltest sie doch suchen, oder nicht?« Er wartete keine Antwort ab. »Übrigens, Ione war hier. Mit den Mädchen. Also ehrlich, diese Leigh ist vielleicht ein Früchtchen, wenn du mich fragst!«
Schweigen. Also hakte Cadan nach: »Du hast sie doch gesucht?«
Lew wandte sich ab und ging in die Küche zurück. Cadan hörte die Kühlschranktür, dann wurde etwas in einen Topf gegossen. Sein Vater setzte offenbar die Milch für seine allabendliche Ovaltine auf. Für einen Augenblick verspürte auch Cadan Lust darauf bis ihm dämmerte, dass er vielmehr daran interessiert war, seinen Vater zu beobachten und zu durchschauen. Oder vielleicht lieber doch nicht? Zögerlich begab er sich ebenfalls in die Küche.
»Ich habe Jago gefragt, was sie bei ihm verloren hat. Du weißt schon, einfach: "Was zum Geier tut sie bei dir?", denn erstens: Warum sollte sie die Nacht bei Jago verbringen wollen? Er ist… was? Siebzig? Das find ich ein bisschen krass, wenn du weißt, was ich meine. Klar, er ist schon irgendwie in Ordnung, aber eben kein Verwandter oder so… Und zweitens…«
Doch ihm fiel kein Zweitens mehr ein. Er schwafelte nur noch, weil das beharrliche Schweigen seines Vaters ihn immer nervöser machte. »Jago hat erzählt, dass er oben im Salthouse Inn war, mit Mr. Penrule, als dieser Typ reinkam, zusammen mit der Frau, der das Cottage in Polcare Cove gehört. Sie hat gesagt, da draußen liege eine Leiche, und Jago hat gehört, wie sie gesagt hat, sie glaube, es sei Santo. Darum ist Jago zur Bäckerei gegangen, um Madlyn abzuholen und es ihr schonend beizubringen. Er hat nicht eher hier angerufen, weil… Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist sie total ausgerastet, als er's ihr gesagt hat, und er hatte alle Hände voll mit ihr zu tun.«
»Hat er das gesagt?«
Cadan war so erleichtert, seinen Vater endlich reden zu hören, dass er erwiderte: »Wer? Was?«
»Hat Jago das gesagt? Dass Madlyn ausgerastet ist?«
Cadan dachte kurz nach; nicht so sehr darüber, ob Jago Reeth das tatsächlich gesagt hatte, sondern eher warum sein Vater ausgerechnet diese Frage stellte. Es schien ein derart seltsames Detail, dass Cadan seinerseits wiederholte: »Du warst sie doch suchen, oder? Ich meine, das hab ich Ione jedenfalls gesagt. Wie gesagt, sie war hier, mit den Mädchen. Zum Pizzaessen.«
»Ione!«, murmelte Lew. »Das hatte ich völlig vergessen… Ich nehme an, sie ist stinkwütend?«
»Sie hat versucht, dich anzurufen. Aber du hattest dein Handy…«
»Es war ausgeschaltet.«
Die Milch auf dem Herd fing an zu dampfen. Lew stellte seinen Newquay-Becher bereit und löffelte reichlich Ovaltinepulver hinein, dann reichte er es Cadan, der inzwischen seine eigene Tasse vom Bord über der Spüle geangelt hatte.
»Ich rufe sie gleich an«, sagte Lew pflichtschuldig.
»Es ist schon nach Mitternacht«, klärte Cadan ihn unnötigerweise auf.
»Glaub mir, besser spät als morgen.« Und damit verließ Lew die Küche und ging in sein Zimmer. Cadan verspürte einen unbezähmbaren Drang herauszufinden, was da vor sich ging teils aus Neugier, teils um sich zu beruhigen, ohne hinterfragen zu müssen, warum er derart beunruhigt war. Er folgte seinem Vater die Treppe hinauf, um an seiner Tür zu lauschen, doch er stellte fest, dass das gar nicht nötig war. Kaum hatte er die oberste Stufe erreicht, hörte er dessen erhobene Stimme und wusste, dass das Gespräch keinen sehr glücklichen Verlauf nahm. Lews Beitrag bestand großteils aus: »Ione… bitte hör mir zu… so viel um die Ohren… total überlastet… völlig vergessen… stecke mitten in der Herstellung eines Surfboards, Ione, und zwei Dutzend weitere… ja, ja. Es tut mir wirklich leid, aber du hast mir nicht gesagt… Ione…«
Das war alles. Dann Stille. Cadan trat näher an die Tür heran. Lew saß auf der Bettkante. Seine Hand ruhte noch immer auf dem Telefonhörer, den er gerade zurück auf die Gabel gelegt hatte. Er sah auf, blickte Cadan ins Gesicht, sagte aber nichts. Stattdessen stand er auf und holte seine Jacke, die er über einen Rattanstuhl in der Ecke geworfen hatte, und streifte sie über. Anscheinend wollte er noch einmal weg.
»Was ist los?«, fragte Cadan.
Lew sah ihn nicht an, als er antwortete: »Sie hat Schluss gemacht.«
Er klang… Cadan sann darüber nach. Bedauernd? Müde? Niedergeschlagen? Resigniert ob der Tatsache, dass, solange man sich nicht änderte, die Vergangenheit immer die Zukunft bestimmte? Cadan bemerkte vorsichtig: »Na ja, du hast den Karren ganz schön in den Dreck gefahren. Euer Date einfach zu vergessen und so.«
Lew klopfte seine Taschen ab, als suchte er nach etwas Bestimmtem. »Tja. Vielleicht. Aber sie wollte nicht zuhören.«
»Was hättest du ihr denn sagen wollen?«
»Es war nur ein Pizzaessen, Cadan. Das war alles. Eine Pizza! Wie kann sie erwarten, dass ich an so etwas denke?«
»Das ist ziemlich kaltschnäuzig«, pflichtete Cadan ihm bei.
»Außerdem geht es dich nichts an.«
Cadan verkrampfte sich unwillkürlich. »Klar. Vermutlich hast du recht. Aber deine Freundin bei Laune zu halten, während du dich irgendwo rumtreibst und Gott weiß was machst, das geht mich schon etwas an, ja?«
Lew ließ die Hand sinken, die seine Taschen abgesucht hatte. »Gott… Es tut mir leid, Cadan. Ich stehe ziemlich unter Strom. Es ist… Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll.«
Das ist es ja gerade, dachte Cadan. Was genau war hier eigentlich los? Sicher, sie hatten von Will Mendick gehört, dass Santo Kerne tot war, und das war bedauerlich, keine Frage. Aber warum sollte diese Nachricht sie ins Chaos stürzen, wenn sie denn tatsächlich ins Chaos gesunken waren?