»Ione!«, murmelte Lew. »Das hatte ich völlig vergessen… Ich nehme an, sie ist stinkwütend?«
»Sie hat versucht, dich anzurufen. Aber du hattest dein Handy…«
»Es war ausgeschaltet.«
Die Milch auf dem Herd fing an zu dampfen. Lew stellte seinen Newquay-Becher bereit und löffelte reichlich Ovaltinepulver hinein, dann reichte er es Cadan, der inzwischen seine eigene Tasse vom Bord über der Spüle geangelt hatte.
»Ich rufe sie gleich an«, sagte Lew pflichtschuldig.
»Es ist schon nach Mitternacht«, klärte Cadan ihn unnötigerweise auf.
»Glaub mir, besser spät als morgen.« Und damit verließ Lew die Küche und ging in sein Zimmer. Cadan verspürte einen unbezähmbaren Drang herauszufinden, was da vor sich ging teils aus Neugier, teils um sich zu beruhigen, ohne hinterfragen zu müssen, warum er derart beunruhigt war. Er folgte seinem Vater die Treppe hinauf, um an seiner Tür zu lauschen, doch er stellte fest, dass das gar nicht nötig war. Kaum hatte er die oberste Stufe erreicht, hörte er dessen erhobene Stimme und wusste, dass das Gespräch keinen sehr glücklichen Verlauf nahm. Lews Beitrag bestand großteils aus: »Ione… bitte hör mir zu… so viel um die Ohren… total überlastet… völlig vergessen… stecke mitten in der Herstellung eines Surfboards, Ione, und zwei Dutzend weitere… ja, ja. Es tut mir wirklich leid, aber du hast mir nicht gesagt… Ione…«
Das war alles. Dann Stille. Cadan trat näher an die Tür heran. Lew saß auf der Bettkante. Seine Hand ruhte noch immer auf dem Telefonhörer, den er gerade zurück auf die Gabel gelegt hatte. Er sah auf, blickte Cadan ins Gesicht, sagte aber nichts. Stattdessen stand er auf und holte seine Jacke, die er über einen Rattanstuhl in der Ecke geworfen hatte, und streifte sie über. Anscheinend wollte er noch einmal weg.
»Was ist los?«, fragte Cadan.
Lew sah ihn nicht an, als er antwortete: »Sie hat Schluss gemacht.«
Er klang… Cadan sann darüber nach. Bedauernd? Müde? Niedergeschlagen? Resigniert ob der Tatsache, dass, solange man sich nicht änderte, die Vergangenheit immer die Zukunft bestimmte? Cadan bemerkte vorsichtig: »Na ja, du hast den Karren ganz schön in den Dreck gefahren. Euer Date einfach zu vergessen und so.«
Lew klopfte seine Taschen ab, als suchte er nach etwas Bestimmtem. »Tja. Vielleicht. Aber sie wollte nicht zuhören.«
»Was hättest du ihr denn sagen wollen?«
»Es war nur ein Pizzaessen, Cadan. Das war alles. Eine Pizza! Wie kann sie erwarten, dass ich an so etwas denke?«
»Das ist ziemlich kaltschnäuzig«, pflichtete Cadan ihm bei.
»Außerdem geht es dich nichts an.«
Cadan verkrampfte sich unwillkürlich. »Klar. Vermutlich hast du recht. Aber deine Freundin bei Laune zu halten, während du dich irgendwo rumtreibst und Gott weiß was machst, das geht mich schon etwas an, ja?«
Lew ließ die Hand sinken, die seine Taschen abgesucht hatte. »Gott… Es tut mir leid, Cadan. Ich stehe ziemlich unter Strom. Es ist… Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll.«
Das ist es ja gerade, dachte Cadan. Was genau war hier eigentlich los? Sicher, sie hatten von Will Mendick gehört, dass Santo Kerne tot war, und das war bedauerlich, keine Frage. Aber warum sollte diese Nachricht sie ins Chaos stürzen, wenn sie denn tatsächlich ins Chaos gesunken waren?
Der Geräteraum von Adventures Unlimited befand sich in einem ehemaligen Speisesaal. Dieser Speisesaal war in der Glanzzeit des King-George-Hotels einmal ein Tanztee-Pavillon gewesen. Die Glanzzeit das war zwischen den beiden Weltkriegen gewesen, und wenn Ben Kerne sich im Geräteraum aufhielt, stellte er sich oft vor, wie es ausgesehen haben musste, als der Parkettboden noch blank poliert war, die Decke im Glanz der Kronleuchter erstrahlte und Frauen in duftigen Sommerkleidern in den Armen von Männern in Leinenanzügen einherschwebten. In glückseliger Ahnungslosigkeit hatten sie ihre Runden gedreht, überzeugt, dass der Krieg, der alle weiteren Kriege beenden sollte, tatsächlich seinen Zweck erfüllt hatte. Gar zu bald waren sie eines Besseren belehrt worden. Aber der Gedanke an diese Menschen hatte für Ben immer etwas Besänftigendes gehabt, genau wie die Musik, die in seiner Vorstellung ein Orchester zum Besten gab, während weiß behandschuhte Kellner winzige Sandwiches auf Silbertabletts herumreichten. Er stellte sich die Tänzer vor, meinte fast, ihre Geister sehen zu können, und spürte ein schmerzliches Bedauern über das Verrinnen der Zeit. Gleichzeitig fühlte er sich seltsam getröstet. Menschen kamen und gingen im King-George-Hotel, aber die Erde drehte sich weiter.
Dieses Mal verschwendete er im Geräteraum jedoch keinen Gedanken an den Tanztee der Dreißigerjahre. Er stand vor einer Schrankreihe und hatte eine der Türen geöffnet. Üblicherweise hing hier Kletterausrüstung an diversen Haken, lag ordentlich in Plastikbehältern oder zusammengerollt auf den Regalen. Seile, Gurte, Schlingen, Friends und Grigris, Klemmkeile, Karabiner… alles Mögliche. Seine eigene Ausrüstung bewahrte er an einem anderen Ort auf, denn es war ihm zu lästig, hier herunterzukommen, wenn er einmal einen freien Nachmittag zum Klettern hatte. Hier hatte Santos Equipment gelagert, und Ben selber hatte voller Stolz ein Schild an die Schranktür geklebt: »Bitte nicht benutzen!« Trainer und Gäste sollten wissen, dass diese Ausrüstung heilig war. Sie hatte über drei Weihnachtsbescherungen und vier Geburtstage einen stattlichen Umfang erreicht.
Doch jetzt war der Schrank leer. Ben wusste, was das bedeutete. Die fehlende Kletterausrüstung war Santos Abschiedsnachricht an seinen Vater. Ben spürte die Monstrosität dieser Nachricht, ihre Bürde, und ihm wurde erschreckend klar: Seine eigenen Worte hatten dies heraufbeschworen, Worte, die er gedankenlos ausgesprochen hatte, getrieben von sturer Selbstgefälligkeit. Trotz aller Bemühungen, trotz der Tatsache, dass er und Santo nicht verschiedener hätten sein können, sowohl was ihr Erscheinungsbild als auch den Charakter betraf, trotz alledem hatte die Geschichte sich wiederholt, jedenfalls in ihrer äußeren Beschaffenheit, wenn auch nicht in ihrer Substanz. Seine eigene Geschichte sprach von falschen Entscheidungen, Verbannung und Jahren der Entfremdung. Santos hingegen sprach nun von Denunziation und Tod. Nicht in Worten, sondern mit der offenen Zurschaustellung seiner Enttäuschung hatte Ben die Frage herausgeschleudert, so deutlich, als hätte er sie geschrien: Was für ein Jammerlappen bist du nur, dass du so etwas tun konntest? Und du willst ein Mann sein?
Natürlich hatte Santo diese ungestellte Frage genau verstanden und so reagiert, wie jeder Sohn eines jeden Vaters reagiert hätte, nämlich mit der Empörung, die ihn schließlich auf die Klippen hinausgetrieben hatte. Ben selbst hatte auf seinen Vater im gleichen Alter in gleicher Weise reagiert: Ausgerechnet du willst mir erklären, was es heißt, ein Mann zu sein? Ich zeig dir, was ein Mann ist.
Während das oberflächliche Warum ihrer Auseinandersetzung nicht ergründet werden musste, weil Santo genau wusste, was dahintersteckte, blieb der wahre Grund dafür unerforscht. Es wäre viel zu furchteinflößend gewesen, ihn verstehen zu wollen. Stattdessen hatte Ben sich lediglich wieder und wieder vorgebetet, dass Santo eben einfach der war, der er war.
»Es ist einfach so passiert«, hatte Santo seinem Vater gestanden. »Hör mal, ich will nicht…«
»Du?«, hatte Ben ihn ungläubig unterbrochen. »Den Rest kannst du dir sparen, denn was du willst, interessiert mich nicht. Was du getan hast, hingegen schon. Was du zustande gebracht hast. Das Ergebnis deiner verdammten Selbstsucht…«
»Warum regst du dich eigentlich so auf? Was kümmert es dich? Wenn es etwas zu regeln gegeben hätte, hätte ich das getan, aber das war ja überhaupt nicht der Fall. Es gibt nichts. Nichts. Okay?«
»Menschliche Wesen regelt man nicht«, hatte Ben entgegnet. »Sie sind keine Maschinen. Keine Handelsware.«