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»Du verdrehst mir das Wort im Mund.«

»Und du verdrehst das Leben anderer Menschen.«

»Das ist ungerecht. Das ist so was von ungerecht!«

So wie Santo das ganze Leben ungerecht finden würde, war es Ben durch den Kopf gefahren. Nur hatte er nicht lange genug gelebt, um das herauszufinden. Und wessen Fehler ist das, Benesek?, fragte er sich. War der Moment den Preis wert, den du nun zahlst?

Jener Moment hatte aus einer einzigen Bemerkung bestanden, die teils der Zorn, vor allem jedoch die blanke Angst hervorgebracht hatte: »Ungerecht ist es, ein wertloses Stück Dreck zum Sohn zu haben.« Einmal ausgesprochen, hingen die Worte da wie schwarze Farbe, die über eine weiße Wand geschleudert worden war. Seine Strafe für diesen Ausbruch würde die Erinnerung an diese erbärmlichen Worte sein und die Erinnerung daran, was sie nach sich gezogen hatten: Santos kalkweißes Gesicht und die Tatsache, dass ein Vater seinem Sohn den Rücken gekehrt hatte. Du willst mir erklären, was es heißt, ein Mann zu sein? Ich zeig's dir. Tausendfach, wenn's sein muss. Aber ich zeig's dir.

Ben wollte nicht daran denken, was er gesagt hatte. Am liebsten wollte er nie wieder an überhaupt irgendetwas denken. Er wünschte, sein Geist würde völlig leer und bliebe es auch, sodass er sein Leben wie ein Roboter beschließen könnte, bis sein Körper den Dienst einstellte und er sich zur ewigen Ruhe betten durfte.

Er schloss den Schrank und hängte das Vorhängeschloss wieder ein. Er atmete langsam durch den Mund, bis er die Beherrschung wiedererlangt hatte und seine Eingeweide sich entkrampften. Dann ging er zum Aufzug und drückte den Rufknopf. Die Kabine schwebte mit vornehmer, antiquierter Langsamkeit herab. Sie kam knarrend zum Stehen, und Ben schob das Eisengitter beiseite, stieg zu und fuhr ins Obergeschoss, wo die Wohnung der Familie lag und wo Dellen wartete.

Doch statt zu seiner Frau ging er erst einmal in die Küche. Dort saß Kerra mit ihrem Freund. Alan Cheston sah sie unverwandt an, und Kerra selbst lauschte, den Kopf in Richtung Schlafzimmer gewandt. Ben wusste, sie wartete auf ein Zeichen, das ihr verriet, wie die Dinge standen.

Als Ben durch die Tür trat, musterte sie ihn kurz und beantwortete die Frage, die er noch nicht einmal hatte stellen müssen: »Still.«

»Gut«, erwiderte er.

Dann ging er zum Herd hinüber. Kerra hatte den Kessel aufgesetzt, bei kleiner Flamme, sodass der Dampf lautlos entwich und das Wasser heiß blieb, aber nicht kochte. Sie hatte vier Becher aus dem Schrank geholt. In jedem lag ein Teebeutel. Ben füllte zwei mit Wasser, stand dann da und sah zu, wie der Tee zog. Seine Tochter und ihr Freund schwiegen, doch er spürte ihre Blicke auf sich und die Fragen, die sie stellen wollten. Nicht nur ihm, sondern auch einander. Allenthalben lauerten unausgesprochene Fragen.

Er konnte den Gedanken an eine Unterhaltung nicht ertragen. Als der Tee dunkel genug war, gab er daher Milch und Zucker in den einen Becher, ließ den anderen, wie er war, und trug beide aus der Küche. Im Flur stellte er einen kurz ab, damit er Santos Zimmertür öffnen konnte, und trat dann in die Dunkelheit, zwei Becher Tee in Händen, den keiner von ihnen würde trinken können oder wollen.

Sie hatte kein Licht angemacht, und da Santos Zimmer zur Rückseite des Hotels lag, drängte auch keine der Straßenlaternen die Dunkelheit zurück. Jenseits der halbmondförmigen Bucht von St. Mevan Beach funkelten zwar Lichter auf einem Wellenbrecher und an der Kanalschleuse im Regen, aber sie waren zu weit weg, um bis hierher zu reichen. Nur aus dem Flur fiel ein milchiger Lichtstreifen auf den Flickenteppich am Boden. Dort lag seine Frau, zusammengekauert in embryonaler Stellung. Sie hatte die Laken und Decken von Santos Bett gerissen und sich darin eingewickelt. Der Großteil ihres Gesichts lag im Schatten, aber Ben sah genug, um zu erkennen, dass es völlig versteinert war. Er fragte sich, ob der Gedanke in ihrem Kopf war: Wäre ich nur hier gewesen… Wäre ich nur nicht den ganzen Tag fortgeblieben…

Er hatte Zweifel. Reue war nie Dellens Stil gewesen.

Mit dem Fuß schloss Ben die Tür. Dellen regte sich. Für einen kurzen Augenblick dachte er, sie wollte etwas sagen, aber stattdessen zog sie die Laken nur bis zu ihrem Gesicht hoch, drückte sie sich an die Nase und sog Santos Geruch ein wie ein Muttertier, und genau wie ein Tier war sie von Instinkten getrieben. Das hatte von dem Tag an, da er ihr begegnet war, ihren Reiz ausgemacht: zwei Heranwachsende, er lüstern, sie willig.

Alles, was sie bislang wusste, war, dass Santo tot war, die Polizei sie heimgesucht hatte, ein Sturz ihn umgebracht und dieser Sturz sich während einer Kletterpartie in den Klippen ereignet hatte. Weiter war Ben mit seinem Bericht nicht gekommen. Sie hatte ihn unterbrochen: »Er war  klettern?« Und dann hatte sie die Miene ihres Mannes gelesen, wie sie es schon seit so langer Zeit vermochte, und hinzugefügt: »Das hast du ihm angetan.«

Das war alles. Sie hatten in der Rezeption des alten Hotels gestanden, denn er hatte sie nicht bewegen können, mit nach oben zu kommen. Bei ihrer Heimkehr hatte sie sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und sie hatte zu wissen verlangt, was geschehen war. Nicht um von der naheliegenden Frage abzulenken, wo sie all die Stunden gesteckt hatte, sie war nicht der Meinung, dass dies irgendwen etwas anging, sondern weil etwas passiert war, was jedwede Neugier bezüglich ihres Tagesablaufs überschattete. Er hatte sich bemüht, sie nach oben ins Wohnzimmer zu führen, doch sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Also war er dort, an Ort und Stelle, mit der Sprache herausgekommen.

Sie war zur Treppe gegangen. Auf der untersten Stufe hatte sie kurz innegehalten und das Geländer umklammert, als brauchte sie Halt. Dann war sie hinaufgestiegen.

Ben stellte den Tee mit Milch und Zucker neben sie auf den Fußboden, ehe er sich auf die Bettkante setzte.

Sie sagte: »Du gibst mir die Schuld. Ich kann es förmlich riechen, Ben.«

»Ich gebe dir nicht die Schuld«, widersprach er. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.«

»Weil wir hier sind. In Casvelyn. Das war doch nur meinetwegen.«

»Nein. Das war für uns alle. Außerdem hatte ich auch die Nase voll von Truro. Das weißt du doch.«

»Du wärst bis in alle Ewigkeit in Truro geblieben.«

»Das stimmt nicht, Dellen.«

»Und wenn du die Nase voll hattest was ich nicht glaube, hatte es nichts mit dir zu tun. Oder mit Truro. Oder irgendeiner anderen Stadt. Ich kann deinen Abscheu spüren, Ben. Er stinkt wie eine Kloake.«

Er schwieg. Eine Windbö erfasste das Gebäude und ließ die Fenster klirren. Ein Sturm braute sich zusammen. Ben kannte die Anzeichen. Der Wind war auflandig und würde schwereres Wetter vom Atlantik hereinbringen. Sie hatten die Sturmsaison noch nicht hinter sich.

»Ich selbst trage die Schuld«, gestand er. »Wir haben gestritten. Ich habe Dinge zu ihm gesagt…«

»Oh, das kann ich mir vorstellen. Du Heiliger. Du verfluchter Heiliger.«

»Es ist nichts Heiliges daran, konsequent zu sein und zu akzeptieren…«

»Das war nicht das Problem zwischen dir und Santo. Denk nicht, ich wüsste das nicht! Du bist doch wirklich ein Drecksack!«

»Du weißt genau, wie es dazu gekommen ist.« Ben stellte seinen Becher auf den Nachttisch. Dann schaltete er die Lampe ein. Sollte sie ihn anschauen, wollte er, dass sie sein Gesicht sah und seinen Blick las. Sie sollte wissen, dass er die Wahrheit sagte. »Ich habe ihn gewarnt. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Ich habe ihm erklärt, dass Menschen real sind und kein Spielzeug. Ich wollte ihm vor Augen führen, dass sein Leben nicht nur daraus besteht, seinem Vergnügen nachzujagen.«

Ihre Stimme war voller Verachtung. »Als ob er das getan hätte.«

»Du weißt, dass er das tut. Er kann gut mit Menschen umgehen, mit allen Menschen. Aber er darf diese… Gabe nicht missbrauchen, um ihnen Unrecht zu tun oder sie auszunutzen. Aber er will nicht einsehen…«