»Will? Er ist tot, Ben. Es gibt kein will mehr.«
Ben dachte, sie würde anfangen zu weinen, aber das tat sie nicht. »Es ist keine Schande, seine Kinder zu lehren, das Richtige zu tun, Dellen«, erklärte er.
»Das, was du für das Richtige hältst, ja? Nicht seine Definition, sondern deine. Er sollte dein Abbild werden, nicht wahr? Aber er war nicht wie du, Ben. Und nichts hätte ihn je zu deinem Abbild machen können.«
»Das weiß ich.« Ben spürte das unerträgliche Gewicht dieser Worte. »Glaub mir, das weiß ich.«
»Das weißt du nicht, und das hast du auch nie gewusst. Und damit konntest du nicht umgehen. Du musstest ihn unbedingt zu dem formen, was du haben wolltest.«
»Dellen, ich weiß, dass ich schuld bin. Denkst du, das wäre mir nicht klar? Ich trage die Schuld hierfür ebenso wie…«
»Nein!« Sie setzte sich auf die Knie auf. »Wage es ja nicht!«, schrie sie. »Fang jetzt bloß nicht wieder damit an, denn wenn du das tust… Ich schwöre, wenn du das tust… Wenn du es auch nur erwähnst… davon anfängst… wenn du versuchst… wenn du…« Sie konnte nicht weitersprechen. Völlig unvermittelt griff sie nach dem Becher, den er auf den Boden gestellt hatte, und warf ihn nach Ben. Der Becherrand traf sein Brustbein, und heißer Tee brannte auf seiner Haut. »Ich hasse dich!«, schrie sie. Und dann noch lauter und immer lauter: »Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!«
Er ließ sich vom Bett auf den Boden fallen und packte sie. Sie schrie ihm immer noch ihren Hass entgegen, als er sie an sich zog, und ihre Fäuste trommelten auf seine Brust, sein Gesicht und den Hals nieder, ehe es ihm gelang, ihre Arme festzuhalten.
»Warum konntest du ihn nicht einfach so sein lassen, wie er war? Er ist tot, und das Einzige, was du je hättest tun müssen, war, ihn in Frieden zu lassen! War das zu viel verlangt?«
»Sch-sch«, murmelte Ben. Er hielt sie, wiegte sie, vergrub die Finger in ihrem dichten blonden Haar. »Dellen. Dellen. Del. Wir können um ihn weinen. Das können wir. Das müssen wir.«
»Ich will nicht! Lass mich los! Lass mich los!«
Sie versuchte, sich zu befreien, aber er hielt sie fest. Er wusste, er konnte sie nicht aus dem Zimmer lassen. Sie stand am Rande des Abgrunds, und wenn sie stürzte, würde sie sie alle mitreißen. Das durfte er nicht zulassen. Nicht jetzt, nicht nach Santo.
Er war stärker als sie, darum begann er, sie niederzudrücken, noch während sie sich wehrte. Er zwang sie zu Boden und hielt sie mit seinem Körpergewicht fest. Sie wand sich und versuchte, ihn abzuwerfen.
Dann bedeckte er ihren Mund mit seinem. Einen Moment spürte er noch ihren Widerstand, doch mit einem Mal war er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Sie zerrte an ihm, an seiner Kleidung: Sie riss an seinem Hemd, der Gürtelschnalle, sie schob seine Jeans ungeduldig abwärts.
Ja!, dachte er, und es war keine zärtliche Geste, mit der er ihr den Pullover über den Kopf zog. Er schob ihren BH hoch und fiel über ihre Brüste her. Sie keuchte und zog den Reißverschluss ihrer Hose auf. Roh schlug er ihre Hand weg. Er würde es tun. Er würde sie besitzen.
In wütender Hast zog er sie aus. Sie wölbte sich ihm entgegen und schrie, als er sie nahm.
Danach weinten sie beide.
Kerra hatte alles gehört. Was hätte sie dagegen tun sollen? Die Privatwohnung war so kostengünstig wie möglich, aus einer Flucht ehemaliger Gästezimmer im obersten Stock des Hotels entstanden. Weil das Geld anderweitig gebraucht worden war, hatten sie auf die Schallisolierung der Wände nicht allzu viel verwendet. Die Wände waren zwar nicht eben papierdünn, aber es kam einem so vor.
Zuerst hörte sie ihre Stimmen — die ihres Vaters leise, dann die ihrer Mutter anschwellend und dann das Geschrei, das sie nicht ignorieren konnte, schließlich den Rest. Heil dem siegreichen Eroberer, dachte sie.
Teilnahmslos sagte sie zu Alan: »Du gehst jetzt besser.« Und ein Teil von ihr fragte ihn gleichzeitig: Begreifst du jetzt?
»Nein«, widersprach Alan. »Wir müssen reden.«
»Mein Bruder ist gestorben. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas müssen.«
»Santo«, verbesserte Alan leise. »Der Name deines Bruders war Santo.«
Sie waren immer noch in der Küche, allerdings saßen sie nicht mehr am Tisch, wo Ben zu ihnen gestoßen war. Als der Radau aus Santos Zimmer immer unüberhörbarer wurde, war Kerra aufgestanden und neben die Spüle geflüchtet. Dort hatte sie das Wasser aufgedreht und einen Topf gefüllt, ohne zu wissen, was sie damit anfangen würde.
Sie war stehen geblieben, nachdem sie den Hahn abgedreht hatte. Durch das Fenster sah sie den höher gelegenen Teil von Casvelyn, wo die St. Issey Road auf den St. Mevan Crescent stieß. Ein unansehnlicher Supermarkt mit dem Namen "Blue Star Grocery" hatte sich wie ein hässlicher Gedanke in der V-förmigen Einmündung breitgemacht, ein Bunker aus Ziegel und Glas, und Kerra fragte sich, warum moderne Zweckarchitektur immer so hässlich sein musste. Der Supermarkt war für die späten Einkäufer noch erleuchtet, und dahinter zeigten weitere Lichtpunkte, wo Autos sich behutsam die Straßen nordwestlich und südöstlich des St. Mevan Down entlangtasteten. Arbeitnehmer fuhren nach Feierabend heim in die zahllosen Weiler, die im Lauf der Jahrhunderte entlang der Küste wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Schmugglerhäfen, dachte Kerra. Cornwall war seit jeher ein gesetzloser Ort gewesen.
»Bitte geh«, sagte sie.
Alan entgegnete: »Willst du mir nicht sagen, worum es hier geht?«
»Hier geht es um Santo«, antwortete sie, und sie sprach den Namen mit übertriebener Sorgfalt aus.
»Du und ich, wir sind ein Paar, Kerra. Wenn Menschen…«
»Ein Paar«, unterbrach sie. »O ja. Wie wahr.«
Er ignorierte den Sarkasmus in ihrer Stimme. »Wenn Menschen ein Paar werden, meistern sie die Dinge gemeinsam. Ich bin hier. Ich bleibe. Und ich überlasse es dir, was du gemeinsam mit mir meistern willst.«
Sie warf ihm einen Blick zu und hoffte, er würde den Spott darin erkennen. Alan hatte kein Recht, so zu sein, in dieser Situation schon gar nicht. Sie hatte ihn nicht als Partner gewählt, damit er ihr nun eine Seite von sich zeigte, die ihr offenbarte, dass sie ihn eigentlich gar nicht kannte. Ihr Alan, ihr Alan Cheston, war ein bisschen schwach auf der Brust, sodass die Winter ihm zu schaffen machten, und manchmal so extrem vorsichtig, dass er einen in den Wahnsinn treiben konnte, Kirchgänger, gehorsamer Sohn, unsportlich. Ein Schaf, nicht der Hirte. Obendrein respektvoll. Und respektabel. Er war der Typ, der fragte: »Darf ich…?«, bevor er ihre Hand nahm. Doch jetzt…
Dieser Mensch hier war nicht der Alan, der kein einziges Sonntagsessen bei Mum und Dad versäumt hatte, seit er die Universität und die verfluchte London School of Economics verlassen hatte. Der käsige Alan mit dem schütteren Haar, der Yoga machte und Essen auf Rädern ausfuhr und niemals in den Meerwasserpool von St. Mevan Beckach springen würde, ohne zuvor einen Zeh hineinzustecken, um die Wassertemperatur zu prüfen. Eigentlich sollte nicht er derjenige sein, der ihr sagte, wie die Dinge liefen.
Doch nun stand er hier und tat genau das. Er stand da, vor dem Edelstahlkühlschrank, und wirkte… unnachgiebig, dachte Kerra. Bei diesem Anblick bekam sie ein Gefühl, als hätte sie Eis in den Adern.
»Sprich mit mir«, verlangte er. Seine Stimme klang fest.
Das gab ihr den Rest. Darum antwortete sie: »Ich kann nicht.«
Es war nicht einmal das, was sie hatte sagen wollen. Doch sein Blick, der für gewöhnlich so unterwürfig war, war nun unerbittlich. Sie wusste, es kam von Macht, Wissen und Furchtlosigkeit, und eben das bewog Kerra, sich abzuwenden. Sie würde kochen, entschied sie. Sie mussten schließlich alle etwas essen.