»Na schön«, sagte Alan zu ihrem Rücken. »Dann rede ich eben.«
»Ich muss etwas zu essen auf den Tisch bringen«, erklärte sie. »Wir müssen zusehen, dass wir bei Kräften bleiben, sonst wird alles nur noch schlimmer. In den nächsten Tagen wird viel zu regeln sein. Vorkehrungen, Telefonate. Irgendjemand muss meine Großeltern anrufen. Santo war ihr Liebling. Ich bin das älteste von ihren Enkelkindern wir sind übrigens siebenundzwanzig alle zusammen, und ist das nicht obszön, wenn man an die Bevölkerungsexplosion und all so was denkt?, aber Santo war ihr Liebling. Wir waren oft bei ihnen, Santo und ich. Manchmal für einen Monat. Einmal sogar neun Wochen. Sie müssen es irgendwann erfahren, und mein Vater wird sie nicht anrufen. Er und Granddad reden nicht mehr miteinander. Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
Sie griff nach einem Kochbuch. Sie besaß eine ansehnliche Sammlung davon, die zwischen Buchstützen auf der Arbeitsplatte stand und die sie bei ihren zahlreichen Kochkursen angehäuft hatte. Einer der Kernes hatte schließlich lernen müssen, gesunde, preiswerte und schmackhafte Mahlzeiten für die großen Besuchergruppen von Adventures Unlimited zusammenzustellen. Natürlich würden sie beizeiten einen Koch einstellen, aber es war günstiger, wenn jemand anderes als er den Speiseplan erstellte. Kerra hatte sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet. Sie interessierte sich nicht für die Dinge, die in einer Küche vonstatten gingen, aber sie wusste, auf Santo konnten sie nicht bauen, und sich auf Dellen zu verlassen, wäre lächerlich gewesen. Ersterer konnte zwar in bescheidenem Maßstab passabel kochen, doch er ließ sich zu leicht ablenken, sei es von einem Popsong im Radio oder dem Anblick eines Tölpels, der in Richtung Sawsneck Down flog. Und was Letztere betraf: Alles an Dellen konnte sich von einer Sekunde auf die andere komplett ändern, einschließlich ihrer Bereitschaft, sich in familiären Angelegenheiten zu engagieren.
Kerra schlug das Kochbuch auf und blätterte nach etwas Kompliziertem. Etwas, was ihre gesamte Aufmerksamkeit erfordern würde. Sie suchte nach einer imposanten Zutatenliste; was sie nicht im Haus hatten, würde sie Alan bei Blue Star holen schicken. Und wenn er sich weigerte, würde sie selbst gehen. So oder so würde sie beschäftigt sein, und genau das brauchte sie jetzt.
»Kerra«, sagte Alan.
Sie ignorierte ihn. Sie entschied sich für Jambalaya mit Naturreis und grünen Bohnen, gefolgt von einem süßen Auflauf. Es würde Stunden dauern, das zuzubereiten. Hühnchen, Würstchen, Krabben, grüne Paprika, Muschelfond… Die Liste war schier endlos. Kerra beschloss, genug für die ganze Woche zu kochen. Die Ablenkung würde ihr guttun, und sie alle würden sich eine Portion davon in der Mikrowelle aufwärmen können, wenn sie Hunger verspürten. War die Mikrowelle nicht eine großartige Erfindung? Hatte sie das Leben nicht vereinfacht? Gott, wäre es nicht die Antwort auf die Gebete jeder jungen Frau, wenn es eine Mikrowelle gäbe, in die man auch Menschen stecken könnte? Nicht um sie aufzuwärmen, sondern um sie zu verändern. Wen hätte sie wohl zuerst hineingesteckt?, überlegte sie. Ihre Mutter? Ihren Vater? Santo? Alan?
Santo natürlich. Ganz ohne Zweifel Santo. Rein mit dir, Bruder. Ich programmiere den Timer, stelle die Wattzahl ein und warte, bis jemand Neues dabei herauskommt…
Aber das war nun nicht mehr nötig. Santo war jetzt ganz entschieden verändert. Er würde nie mehr wieder wie ein Irrlicht durch die Welt ziehen, sich sorglos treiben lassen und in seiner unendlichen Gedankenlosigkeit alles das tun, was seinem Vergnügen diente. Es gibt Wichtigeres im Leben als das, und ich schätze, jetzt hast du's endlich begriffen, Santo. Im letzten Moment hast du es gewusst. Du hast es einfach wissen müssen. Du bist abgestürzt, die Felsen kamen immer näher, und als im letzten Augenblick kein Wunder geschah, hast du erkannt, dass die anderen Leute in deinem Leben tatsächlich menschliche Wesen sind und du verantwortlich bist für den Schmerz, den du ihnen zufügst. Aber da war es schon zu spät, um dich zu bessern, wo doch gerade bei Selbsterkenntnis der Grundsatz gilt: Besser spät als nie.
Kerra fühlte sich, als stiegen Blasen in ihr auf. Sie waren heiß, wie die Blasen des kochenden Wassers, die sich ihren Weg suchten, hinaus aus dem kochenden Wasser, und zwar um jeden Preis. Kerra unterdrückte den Impuls, sie hinauszulassen, und holte eine Flasche Olivenöl aus dem Schrank, wandte sich wieder zur Arbeitsplatte, griff nach dem Messlöffel und überlegte: Wie viel Olivenöl…?, als ihr die Flasche aus der Hand rutschte. Sie zerschellte am Boden, und das Öl spritzte in alle Richtungen, über den Herd, den Schrank und Kerras Kleidung. Sie sprang zur Seite, aber sie entkam ihm nicht.
»Verflucht!«, schrie sie und spürte plötzlich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie sagte zu Alan: »Würdest du bitte endlich verschwinden?« Dann rollte sie mehrere Blätter Küchenpapier ab und legte sie in die Ölpfütze. Sie waren sofort vollkommen durchweicht.
»Lass mich das machen, Kerra«, bat Alan. »Setz dich hin. Ich mach das.«
»Nein«, protestierte sie. »Ich hab die Schweinerei angerichtet, also werde ich sie auch beseitigen.«
»Kerra…«
»Nein! Ich sagte: Nein! Ich brauche deine Hilfe nicht. Und ich will deine Hilfe auch nicht. Ich will, dass du gehst. Verschwinde!«
In einem Zeitungsständer nahe der Tür lagen mehrere Ausgaben des Watchman. Alan nahm sich einen Stapel und führte Casvelyns Lokalzeitung einer sinnvollen Anwendung zu. Kerra sah einfach nur reglos zu, während das Öl in die bedruckten Seiten sickerte. Alan tat es ihr gleich. Sie standen sich gegenüber, die Pfütze zwischen ihnen. Für Kerra war diese Pfütze eine unüberwindbare Kluft, für ihn jedoch, wusste sie, höchstens eine vorübergehende Unannehmlichkeit.
»Mach dir keine Vorwürfe, weil du wütend auf Santo warst«, riet Alan. »Du hattest ein Anrecht auf deine Wut. Er mag es irrational gefunden haben, sogar dumm, dass du dich mit etwas belastet hast, was ihm nebensächlich erschien. Aber es gab einen Grund für deine Gefühle, und du warst im Recht. Davon abgesehen, hast du ein Anrecht auf alles, was du fühlst. So liegen die Dinge.«
»Ich hatte dich gebeten, die Stelle hier nicht anzunehmen.« Ihre Stimme war ausdruckslos; innerlich war sie vollkommen leer.
Er schien verwirrt. Ihr war klar, dass es ihm vorkommen müsse, als stehe diese Bemerkung in keinerlei Zusammenhang zu der momentanen Situation, aber ihre Worte umfassten alles, was sie empfand und nicht ausdrücken konnte.
»Kerra, Jobs fallen nicht vom Himmel. Ich bin gut in dem, was ich mache. Ich habe es geschafft, dass dieses Unternehmen Aufmerksamkeit erregt. Wir waren sogar in der Mail on Sunday! Seit dieser Artikel erschienen ist, kommen Tag für Tag neue Buchungen rein. Es ist nicht leicht hier draußen, und wenn wir uns eine Lebensgrundlage in Cornwall aufbauen wollen…«
»Das wollen wir nicht«, entgegnete sie. »Wir können nicht. Jetzt nicht mehr.«
»Wegen Santo?«
»Ach, hör doch auf, Alan.«
»Wovor hast du denn Angst?«
»Ich habe keine Angst. Ich habe niemals Angst.«
»Blödsinn. Du bist wütend, weil du Angst hast. Aber Wut ist einfacher. Sie kommt dir näherliegend vor.«
»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest.«
»Mag sein. Aber dann erklär es mir.«
Sie konnte nicht. Zu viel stand auf dem Spiel, um zu reden. Zu viel gesehen, zu viel passiert, über zu viele Jahre. Sie war einfach unfähig, Alan das alles zu erklären. Er musste ihr einfach glauben und entsprechend handeln.
Dass er das nicht getan hatte und sich auch jetzt noch weigerte, es zu tun, bedeutete, dass die Totenglocke für ihre Beziehung läutete. Kerra redete sich ein, dass schon allein aus diesem Grund nichts mehr von dem, was heute passiert war, eine Rolle spielte.
Noch während sie das dachte, erkannte sie, dass sie sich selbst belog. Aber auch das spielte keine Rolle mehr.