Selevan Penrule hielt das alles für Humbug. Trotzdem nahm er seine Enkelin bei den Händen. Sie saßen sich an dem schmalen Tisch im Caravan gegenüber, und Tammy schloss die Augen und begann zu beten. Selevan hörte nicht richtig hin, aber er erfasste in etwa, worum es ging. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Hände seiner Enkelin. Sie waren trocken und kühl, aber so dürr, dass es ihm vorkam, als könnte er sie zermalmen, wenn er nur ein wenig fester zupackte.
»Sie isst nicht richtig, Vater Penrule«, hatte seine Schwiegertochter ihm erklärt. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. "Vater Penrule" hörte sich an, als wäre er ein Priester auf Abwegen. Aber er hatte Sally Joy nicht korrigiert. Er war froh, dass sie überhaupt mit ihm redeten. Weder sie noch ihr Mann hatte sich seit Ewigkeiten die Mühe gemacht. Also hatte er gebrummelt, er würde das Mädchen schon aufpäppeln. »Es liegt an Afrika, Sally Joy, verstehst du das denn nicht? Wenn ihr das Kind nach Rhodesien verschleppt…«
»Simbabwe, Vater Penrule. Wir sind derzeit in…«
»Mir ist egal, wie die es nennen. Wenn ihr sie nach Rhodesien verschleppt und sie wer weiß welchen Erlebnissen aussetzt, müsst ihr euch nicht wundern, dass es ihr den Appetit verschlägt.«
Selevan ahnte, dass er zu ruppig gewesen war, denn Sally Joy schwieg für einen Moment. Er stellte sie sich vor, da unten in Rhodesien oder wo immer sie steckten; er sah sie mit lang ausgestreckten Beinen in Rattansesseln auf der Veranda sitzen, auf dem Beistelltisch ein Glas… vermutlich Limonade, Limonade mit Schuss… Was ist es, Sally Joy? Was ist in dem Glas, womit du dir Rhodesien schöntrinkst?
Er räusperte sich vernehmlich und sagte: »Na ja, es ist ja auch egal. Schickt sie mir. Ich bring sie schon wieder auf Vordermann.«
»Du achtest darauf, dass sie isst?«
»Mit Argusaugen«, versprach er.
Und das hatte er getan. Sie hatte heute Abend neununddreißig Bissen gegessen. Neununddreißig Löffel einer Grütze, die selbst Oliver Twist zu einer bewaffneten Rebellion verleitet hätte. Keine Milch, keine Rosinen, kein Zimt, kein Zucker. Nur wässrigen Porridge und ein Glas Wasser. Nicht einmal die Koteletts und das Gemüse ihres Großvaters hatten sie in Versuchung führen können.
»… denn Dein Wille ist es, den wir suchen. Amen«, sagte Tammy, und als er die Augen öffnete, fand er ihren Blick auf sich ruhen. Ihr Ausdruck verriet Zuneigung. Hastig ließ er ihre Hände los.
»Das ist verdammter Blödsinn«, erklärte er barsch. »Das weißt du hoffentlich, oder?«
Sie lächelte. »Du hast es mir oft genug gesagt.« Sie lehnte sich bequem zurück, als wartete sie darauf, dass er es ihr noch einmal sagte, und stützte das Kinn auf eine Hand.
»Wir beten doch schon vor dem verfluchten Essen«, schimpfte er. »Warum müssen wir danach noch mal beten?«
Sie leierte ihre Standardantwort herunter, aber nichts wies darauf hin, dass sie dieser Diskussion müde wurde, die sie mindestens zweimal wöchentlich führten, seit sie zu ihm gekommen war. »Zu Beginn sprechen wir ein Dankgebet. Wir danken Gott für unser Essen. Und dann am Ende beten wir für diejenigen, die nicht genug zu essen haben, um sich zu ernähren.«
»Wenn sie noch leben, haben sie ja offenbar doch genug, um sich zu ernähren«, konterte er grantig.
»Granddad, du weißt genau, was ich meine. Es gibt einen Unterschied zwischen so gerade noch am Leben sein und ausreichender Ernährung. Ausreichende Ernährung bedeutet mehr. Es bedeutet, genügend Nährstoffe zu sich zu nehmen, um handlungsfähig zu sein. Nimm zum Beispiel den Sudan…«
»Jetzt warte mal, Missy! Und rühr dich nicht vom Fleck!« Er glitt von der Bank und trug seinen Teller den kurzen Weg zur Spüle, um vorzugeben, mit dem Abwasch beginnen zu wollen. Doch stattdessen nahm er ihren Rucksack vom Haken an der Tür und sagte: »Lass uns mal hier reingucken.«
»Granddad«, sagte sie geduldig. »Du kannst mich nicht davon abhalten, das weißt du doch.«
»Ich weiß nur, dass ich deinen Eltern gegenüber eine Verpflichtung habe. Das ist alles, was ich weiß.«
Er trug den Rucksack zum Tisch, leerte ihn aus, und da war sie auch schon: eine Zeitschrift, von deren Titelseite ihm eine junge schwarze Mutter in Stammestracht mit einem Kind auf dem Arm entgegensah. Ihr Blick war kummervoll; beide sahen hungrig aus. Verschwommen im Hintergrund sah man weitere Menschen, die hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verwirrung auf irgendetwas warteten. Die Zeitschrift hieß Crossroads. Selevan rollte sie auf und ließ sie in seine Handfläche klatschen.
»Also«, sagte er. »Du isst noch eine Portion Porridge. Entweder das oder ein Kotelett. Du kannst es dir aussuchen.« Er steckte die Zeitschrift in die hintere Tasche seiner ausgebeulten Hose. Er würde sie später entsorgen, wenn Tammy schlafen gegangen war.
»Ich bin satt«, gab sie zurück. »Ehrlich. Granddad, ich esse genug, um gesund und am Leben zu bleiben, und das ist es, was Gott will. Wir haben kein Recht, überflüssiges Gewicht mit uns herumzutragen. Abgesehen davon, dass es ungesund ist, ist es auch Unrecht.«
»Oh, eine Sünde, ja?«
»Na ja… Das kann es sein, richtig.«
»Also ist dein Granddad ein Sünder? Er kommt geradewegs in die Hölle auf einem Teller Bohnen, während du mit den Engelchen Harfe spielst?«
Sie lachte. »Du weißt, das ist es nicht, was ich glaube.«
»Was du glaubst, ist ein Karren voll Mist! Was ich weiß, ist, dass diese Phase, die du durchmachst…«
»Eine Phase? Und woher willst du das wissen, wenn du und ich doch erst wie lange ist es? Zwei Monate zusammenleben? Vorher hast du mich nicht mal gekannt, Granddad. Nicht richtig, jedenfalls.«
»Wie lange wir schon zusammenwohnen, spielt keine Rolle. Ich kenne die Frauen. Und du bist eine Frau, trotz allem, was du tust, um wie ein zwölfjähriger Rotzlöffel auszusehen.«
Sie nickte versonnen, und er sah an ihrer Miene, dass sie im Begriff war, ihm das Wort im Munde zu verdrehen und gegen ihn zu richten, was sie so virtuos beherrschte. »Also, lass mich mal überlegen«, sagte sie. »Du hast vier Söhne und eine Tochter, und deine Tochter also Tante Nan ist mit sechzehn von zu Hause ausgezogen und außer zu Weihnachten und hier und da mal zu einem Feiertag nie zurückgekommen. Somit bleiben Gran und die Freundinnen oder Ehefrauen, die deine Söhne mit heimgebracht haben, richtig? Also, wie kommt es, dass du die Frauen kennst, wo du doch nur so begrenzte Erfahrungen mit ihnen hast, Granddad?«
»Werd mir ja nicht neunmalklug! Ich war sechsundvierzig Jahre mit deiner Großmutter verheiratet, ehe die arme Frau tot umgefallen ist. Ich hatte reichlich Zeit, deine Sorte kennenzulernen.«
»Meine Sorte?«
»Die Frauen. Und was ich weiß, ist, dass Frauen Männer brauchen, so wie Männer Frauen brauchen, und jeder, der etwas anderes behauptet, sollte besser mal seinen Kopf untersuchen lassen.«
»Und was ist mit Männern, die Männer brauchen, und Frauen, die Frauen brauchen?«
»Darüber müssen wir gar nicht erst reden.« Er war empört. »In meiner Familie gibt es keine Perversen, schreib dir das hinter die Ohren!«
»Ah. Das ist es also, was du denkst. Es ist pervers.«
»Ich denke das nicht, das weiß ich.« Er hatte ihre Habseligkeiten zurück in den Rucksack gestopft und diesen wieder an seinen Haken gehängt, ehe ihm aufging, wie sie ihn von seinem Thema abgelenkt hatte. Dieses verflixte Mädchen war wie ein frisch gefangener Fisch, wenn man mit ihm reden wollte: Es zappelte und schlug Purzelbäume, um dem Netz zu entgehen. Aber heute Abend würde es nicht damit durchkommen. Er war Tammys Gerissenheit gewachsen. Die Schläue in ihren Adern war verdünnt verwässert, weil Sally Joy ihre Mutter war. Seine hingegen war dies nicht.
»Eine Phase«, wiederholte er. »Und damit Punkt. Mädchen in deinem Alter haben alle ihre Phasen. Diese hier sieht vielleicht anders aus als bei anderen Mädchen, aber eine Phase bleibt eine Phase. Und du kannst mir glauben, ich erkenne eine Phase, wenn sie mir ins Auge blickt.«