»Ach wirklich?«
»Wirklich. Es gibt eindeutige Anzeichen, falls du glauben solltest, ich erfinde das nur. Ich habe dich mit ihm gesehen.«
Sie antwortete nicht. Stattdessen trug sie ihr Glas und die Schale zur Spüle und begann mit dem Abwasch. Sie schob die Knochen von seinem Teller in den Abfall und stapelte Töpfe, Teller, Besteck und Gläser in der Reihenfolge auf die Arbeitsplatte, in der sie sie zu spülen gedachte. Dann ließ sie das Wasser ein. Dampf stieg auf. Manchmal fürchtete er, sie würde sich verbrühen, aber die Wassertemperatur schien ihr nie etwas auszumachen.
Er trat neben sie und nahm sich ein Geschirrtuch. »Hast du mich gehört, Missy? Ich hab dich mit ihm gesehen, also versuch nicht, deinem Granddad zu erzählen, du hättest kein Interesse. Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich weiß, was ich weiß. Wenn eine Frau einen Mann anguckt, so wie du ihn angeguckt hast… Es verrät mir, dass du nicht weißt, was du willst, ganz egal was du mir erzählst.«
»Und wo genau soll diese Sichtung stattgefunden haben, Granddad?«, fragte sie.
»Was spielt das für eine Rolle? Ihr hattet die Köpfe zusammengesteckt und die Arme umeinandergelegt so wie ein Liebespaar es tut…«
»Und hat dich das beunruhigt? Dass wir ein Liebespaar sein könnten?«
»Fang ja nicht so an, Missy! Versuch das bloß nicht noch mal! Einmal am Abend ist genug, und dein Granddad ist kein solcher Dummkopf, dass er zweimal darauf reinfällt.« Sie hatte ihr Wasser- und sein Bierglas gespült, und nun schnappte er sich Letzteres, stopfte das Geschirrtuch hinein und wischte es von innen aus. »Du warst an ihm interessiert, erzähl mir nichts«, fuhr er fort.
Sie hielt inne. Sie blickte aus dem Fenster auf die vier Reihen von Caravans, die sich unterhalb des ihren zur Klippe und zum Meer hin erstreckten. Nur einer war zu dieser Jahreszeit bewohnt, der direkt an der Klippe, und das Küchenlicht war eingeschaltet. Es blinzelte in die Regennacht hinaus.
»Jago ist zu Hause«, bemerkte Tammy. »Wir sollten ihn mal wieder zum Essen einladen. Es ist nicht gut für ältere Menschen, so viel allein zu sein. Und er ist jetzt bestimmt… Er wird Santo furchtbar vermissen, auch wenn er's vermutlich nie zugeben würde.«
Ah. Na bitte. Der Name war heraus. Jetzt konnte Selevan ungehindert von dem Jungen sprechen. »Du willst behaupten, es war nichts. Eine vorübergehende Laune. Ein kleiner Flirt. Aber ich habe euch gesehen, und ich weiß, dass du willig warst. Wenn er den ersten Schritt gemacht hätte…«
Sie griff nach einem Teller und spülte ihn gründlich. Ihre Bewegungen waren bedächtig. Alles, was Tammy tat, tat sie mit Ruhe. »Granddad, du ziehst falsche Schlüsse«, erklärte sie. »Santo und ich waren Freunde. Er hat mit mir geredet. Er brauchte jemanden, mit dem er reden konnte, und seine Wahl ist auf mich gefallen.«
»Also ging es von ihm aus.«
»Quatsch! Ich hab mich darüber gefreut. Ich kam prima mit ihm zurecht. Ich war froh, diejenige zu sein… na ja, an die er sich wenden konnte.«
»Pah! Lüg mir nichts vor.«
»Warum sollte ich lügen? Er hat geredet, ich hab zugehört. Und wenn er zu irgendetwas meine Meinung hören wollte, hab ich sie ihm gesagt.«
»Ich hab euch Arm in Arm gesehen, Kind.«
Tammy betrachtete ihn mit zur Seite geneigtem Kopf. Eingehend studierte sie sein Gesicht, und dann lächelte sie. Sie nahm die Hände aus dem Wasser und schlang sie tropfnass, wie sie waren, um seinen Hals. Er versteifte sich und wollte sich losmachen, aber da drückte sie ihm schon einen Kuss auf und sagte: »Liebster Granddad! Arm in Arm bedeutet heute nicht mehr das, was es früher vielleicht mal hieß. Es bedeutet Freundschaft. Und das ist die Wahrheit, ehrlich.«
»Ehrlich? Pah!«
»Aber es stimmt! Ich versuche immer, ehrlich zu sein.«
»Auch zu dir selbst?«
»Ganz besonders zu mir selbst.« Sie wandte sich wieder dem Abwasch zu, spülte sorgfältig ihre Porridgeschale aus und begann mit dem Besteck. Erst als sie damit fertig war, sprach sie wieder, und das mit so leiser Stimme, dass Selevan es vielleicht überhört hätte, wenn er nicht in der Erwartung, etwas ganz anderes zu hören, die Ohren gespitzt hätte. »Ich habe ihm geraten, auch ehrlich zu sein«, murmelte sie. »Vielleicht hätte ich das nicht tun dürfen, Granddad… Ich mach mir ziemliche Sorgen deswegen.«
6
»Wir wissen beide, dass du es sehr wohl einrichten kannst, Ray. Das ist alles, worum ich dich bitte.« Bea Hannaford hob den Becher mit ihrem Morgenkaffee und betrachtete ihren Exmann über den Rand hinweg, um zu ergründen, ob sie noch mehr sagen sollte. Ray hatte aus den verschiedensten Gründen ein schlechtes Gewissen, und Bea hatte keine Bedenken, die entsprechenden Knöpfe zu drücken, wenn es ihrer Sache dienlich war.
»Es geht nicht«, entgegnete er. »Selbst wenn es möglich wäre, kann ich die nötigen Strippen nicht ziehen.«
»Als Assistant Chief Constable? Also, ich bitte dich!« Sie konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, die Augen zu verdrehen. Sie wusste genau, dass er das verabscheute, und wenn sie es täte, würde er punkten. Es gab Gelegenheiten, da es sich als ausgesprochen nützlich erwies, jemanden aus zwanzig Jahren Ehe zu kennen, und dies war eine solche Gelegenheit. »Du kannst doch nicht allen Ernstes erwarten, dass ich dir das abkaufe.«
»Das kannst du halten, wie du willst«, erwiderte Ray. »Aber wie dem auch sei. Du weißt noch überhaupt nicht, womit du es hier eigentlich zu tun hast, und das wirst du auch nicht wissen, ehe du aus der Rechtsmedizin gehört hast. Du bist voreilig. Das bist du übrigens oft, nebenbei bemerkt.«
Das ging unter die Gürtellinie, dachte sie. Es war eine dieser Exmann-Bemerkungen, die Sorte, die zu einem Streit führte, in dessen Verlauf Dinge gesagt wurden, die verletzten. Sie gedachte nicht, sich darauf einzulassen, sondern ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich nach. Sie hob die Glaskanne in seine Richtung. Wollte er noch eine Tasse? Er wollte. Er trank seinen Kaffee schwarz, genau wie sie und das machte die Dinge so einfach, wie sie zwischen einem Mann und einer Frau eben sein konnten, die seit beinahe fünfzehn Jahren geschieden waren.
Um zwanzig nach acht hatte er vor ihrer Tür gestanden. Bea hatte in der Erwartung geöffnet, den Kurier aus London früher als angekündigt vorzufinden, doch stattdessen stand dort ihr Exmann auf der Matte. Er sah stirnrunzelnd zum Wohnzimmerfenster hinüber, wo auf einem Gestell mit drei Etagen eine Ansammlung von Topfpflanzen stand, die sich im Endstadium eines Todeskampfes der Vernachlässigung befanden. Ein Schild darüber informierte: "Spendenkasse. Erlös für Pflegebedürftige. Geld bitte in Kasten legen." Doch von Bea konnten die armen Pflegebedürftigen wohl keinen größeren Beitrag für ihre Sache erwarten.
»Du hast immer noch keinen grünen Daumen, wie ich sehe«, hatte Ray bemerkt.
»Ray! Was willst du denn hier? Wo ist Pete?«
»Wo soll er schon sein? In der Schule. Und zutiefst unglücklich darüber, dass er heute Morgen zwei Eier essen musste anstelle von… Seit wann kriegt er bei dir kalte Pizza zum Frühstück?«
»Er lügt dich an. Na ja… Es war wirklich nur ein einziges Mal. Das Problem ist, dass er ein unfehlbares Gedächtnis hat.«
»Wir wissen, von wem er das hat.«
Sie war zurück in die Küche gegangen, ohne zu antworten. Er war ihr gefolgt, eine Plastiktüte in der Hand, die er auf dem Tisch abstellte. Sie enthielt den Grund für seinen Besuch: Petes Fußballschuhe. Sie wolle doch wohl nicht, dass der Junge seine Schuhe im Haus seines Vaters ließ? Oder dass er sie mit zur Schule nahm? Darum habe besagter Vater sie vorbeibringen wollen.
Sie hatte ihm einen Kaffee angeboten. »Du weißt ja, wo die Becher stehen.« Und sofort hatte sie das Angebot bereut, denn die Kaffeemaschine stand gleich neben dem Kalender, der nicht nur Petes Termine enthielt, sondern auch ihre eigenen. Letztere waren zwar kryptisch formuliert, aber Ray war kein Idiot. Als er mit leicht gerunzelter Stirn die Eintragungen betrachtete, wusste sie genau, was er sah: MotorMaulckWichser und ProblemBärWichser. Hätte Ray die letzten drei Monate durchgeblättert, wäre er noch auf mehr gestoßen. Fünfzehn Wochen Internetdating: Es mochte Millionen von Fischen in diesem Männermeer da draußen geben, aber in Beas Netz verfingen sich immer nur rostige Töpfe und Seetang.