»Wieso?«
»Weil Sie es können. Weil das hier eine Mordermittlung ist und all die schönen Benimmregeln vollkommen belanglos werden, sobald wir einen Mörder suchen. Und das wissen Sie so gut wie ich.«
Lynley schüttelte den Kopf, aber Bea Hannaford schien es weniger eine Verneinung zu sein als vielmehr die unwillige Anerkennung einer unverrückbaren Tatsache: Sie hatte ihn am Wickel. Wenn er davonlief, würde sie ihn zurückholen, und das war ihm klar.
Schließlich fragte er: »Wurde die Netzschlinge eingeschnitten?«
»Was?«
»Der Anruf, den Sie vorhin bekamen. Als Sie auflegten, sagten Sie, es handele sich um Mord. Also frage ich mich, ob die Schlinge manipuliert wurde oder ob die Kriminaltechnik etwas anderes gefunden hat.«
Bea überlegte, ob sie ihm antworten sollte und was es ihm signalisieren würde, wenn sie es täte. Sie wusste so gut wie nichts über diesen Mann, aber sie verließ sich auf ihre Intuition.
»Sie wurde eingeschnitten«, sagte sie.
»War es offensichtlich?«
»Unter dem Mikroskop war es deutlich sichtbar.«
»Es war also nicht so ohne Weiteres zu erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge. Wieso glauben Sie, dass es Mord war?«
»Und nicht was?«
»Ein Selbstmord, der nach Unfall aussehen sollte, um der Familie zusätzlichen Schmerz zu ersparen.«
»Was wissen wir bisher, was Sie zu dieser Annahme führen könnte?«
»Er wurde niedergeschlagen. Der Fausthieb.«
»Und weiter?«
»Es ist nur so eine Idee, aber vielleicht war er nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Er wollte, aber er konnte nicht. Wer weiß, warum. Er war unfähig oder zumindest unwillig, was zu einem Gefühl des Versagens führte. Dieses Versagen projiziert er auf sein gesamtes Leben und all seine Beziehungen, ganz gleich wie unlogisch diese Projektion sein mag…«
»Und schwups — er bringt sich um? Das glaube ich nicht und Sie ebenso wenig.« Bea steckte den Schlüssel ins Zündschloss und dachte darüber nach, was diese Bemerkungen ihr verrieten, nicht so sehr über das Opfer, sondern über Thomas Lynley selbst. Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und fragte sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hatte. »Wissen Sie, was ein Klemmkeil ist?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Sollte ich? Was ist es?«
»Es ist das, was aus dieser Sache eine Mordermittlung macht.«
7
Nicht lange nach Mittag hörte es in Casvelyn auf zu regnen, und dafür war Cadan Angarrack dankbar. Seit seiner Ankunft am Morgen war er damit beschäftigt gewesen, die Heizkörper in den Gästezimmern von Adventures Unlimited zu streichen, und von den Lackdämpfen hämmerte ihm der Schädel. Er konnte ohnehin nicht verstehen, warum sie ihn die Heizungen anstreichen ließen. Wer würde das schon merken? Wer bitte schön achtete denn darauf, ob die Heizkörper seines Hotelzimmers gestrichen waren? Kein Schwein, außer vielleicht ein Hoteltester, und was würde es schon bedeuten, wenn ein Hoteltester ein bisschen Rost am Radiator entdeckte? Gar nichts. Absolut überhaupt nichts. Und außerdem war es doch nicht so, als sollte das heruntergekommene King-George-Hotel in seinem alten Glanz erstrahlen, oder? Es wurde doch nur bewohnbar gemacht für die Massen von Touristen, die einen Pauschalurlaub am Meer mit Spaß, Action, Vollpension und Trainer für alle möglichen Sportarten buchen wollten. Und den Typen war es doch völlig egal, wo sie nachts schliefen, Hauptsache es war sauber, es standen Pommes frites auf der Speisekarte, und es war nicht allzu teuer.
Darum beschloss Cadan, als der Himmel aufklarte, ein bisschen frische Luft wäre genau das Richtige. Er wollte sich den Minigolfplatz ansehen, die zukünftige BMX-Bahn, wo bald BMX-Kurse stattfinden würden, die, da war Cadan guter Dinge, man ihn hier geben lassen würde, sobald er sein Können unter Beweis gestellt hatte. Doch wem gegenüber sollte er es derzeit beweisen? Das war momentan das Problem. Er war nicht mehr sicher. Er war nicht einmal sicher gewesen, ob er heute zur Arbeit kommen sollte oder überhaupt noch einen Job hatte, nach dem, was mit Santo passiert war. Zuerst hatte er sich überlegt, einfach nicht aufzukreuzen. Er hatte ein paar Tage verstreichen lassen wollen, dann anrufen und das bisschen Beileid ausdrücken, wozu er fähig war, und schließlich fragen, ob sie ihn immer noch für die Instandsetzungsarbeiten benötigten. Aber dann war ihm klar geworden, dass solch ein Anruf ihnen bloß die Chance gegeben hätte, ihn rauszuwerfen, ehe er auch nur Gelegenheit hatte zu zeigen, wie wertvoll er für sie sein konnte. Also hatte er entschieden, zur Arbeit zu gehen und so trübsinnig wie möglich dreinzuschauen, sollte er irgendeinem Kerne begegnen.
Bisher hatte Cadan allerdings weder Ben noch Dellen Kerne — Santos Eltern — zu Gesicht bekommen. Aber er war gleichzeitig mit Alan Cheston eingetroffen. Als Cadan Alan davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass er inzwischen bei Adventures Unlimited angestellt war, hatte Alan versprochen, er werde umgehend jemanden holen, der Cadan sagte, was er tun solle. Dann hatte er die Eingangstür aufgesperrt, um sie beide hineinzulassen, und war davongeeilt. Den Schlüssel hatte er im Gehen mit einer Geste zurück in die Tasche gesteckt, die besagte, dass er sich seiner Rolle bei Adventures Unlimited und seiner Unverzichtbarkeit nur allzu bewusst war.
In dem alten Hotel war es so still wie auf einem Friedhof gewesen. Außerdem war es kalt. Cadan hatte geschaudert und gefühlt, wie Pooh auf seiner Schulter das Gleiche tat. Er hatte in der Rezeption gewartet, wo auf einem Wandbord stand: "Ihre Kursleiter", darunter die Porträtfotos der sechs Trainer, die bereits eingestellt worden waren. Die Fotos waren pyramidenförmig angeordnet, und die Spitze bildete Kerra Kerne, die als Sportdirektorin ausgewiesen wurde.
Kein übles Bild von Kerra, fand Cadan. Sie war keine große Schönheit: unauffälliges braunes Haar, unauffällige blaue Augen und stämmiger, als Cadan es bei einer Frau gefiel. Aber sie war ohne Zweifel die fitteste Frau in ganz Casvelyn. Es war einfach Pech, dass Kerra bei der Auslosung der Gene das Aussehen ihres Vaters erwischt hatte und nicht das ihrer Mutter. Das wiederum hatte Santo geerbt, ein Umstand, den manch einer als Glücksfall bezeichnet hätte. Cadan hingegen war der Überzeugung, dass die meisten Kerle gar nicht wild darauf waren, so hübsch zu sein wie Santo. Es sei denn, man wusste, wie man sein Äußeres zu seinem Nutzen einsetzen konnte.
»Cadan?«
Er war herumgefahren. Pooh hatte gekrächzt und war seitwärts über Cadans Schulter getippelt.
Wie aus dem Boden gestampft, hatte Kerra vor ihm gestanden. Alan war bei ihr gewesen. Cadan wusste, sie waren ein Paar, aber in seinen Augen passten die beiden mitnichten zusammen. Kerra war eine kerngesunde Sportskanone, leider mit Fesseln wie Baumstämmen. Alan hingegen sah aus wie jemand, der nur unter Androhung der Todesstrafe Sport treiben würde.
Mit ein paar Worten hatten sie alles geklärt. Auf den ersten Blick mochte Alan wie ein Weichei wirken, aber es stellte sich heraus, dass er derjenige war, der hier fast alle Entscheidungen traf. Ehe Cadan also auch nur auf die Idee kommen konnte, empfindliche Bronchien und eine Allergie gegen Farbdünste vorzuschützen, hatte er sich mit Abdeckplane und Pinsel in der einen und einem riesigen Eimer leuchtend weißen Heizkörperlacks in der anderen Hand wiedergefunden. Alan hatte Cadan ein paar knappe Anweisungen gegeben und sich dann verzogen.
Vier Stunden später befand Cadan, dass er sich eine Pause an der frischen Luft verdient hätte. Pooh war geradezu unheimlich still geworden, war ihm aufgefallen. Vielleicht hatte der Papagei ebenfalls Kopfschmerzen.
Die Erde auf dem Minigolfplatz war immer noch klatschnass, aber davon ließ Cadan sich nicht abschrecken. Er schob sein Rad zum ersten Loch und musste erkennen, dass es ein Hirngespinst gewesen war, hier jetzt ein paar Tabletops vollführen zu wollen. Er stellte das Rad ab, setzte Pooh auf die Lenkstange und unterzog den Minigolfplatz einer Inspektion.