»Sie hat die Nacht bei einem Siebzigjährigen verbracht?«
»Jago hat angerufen und Bescheid gesagt, dass sie bei ihm ist.«
»Wann war das?«
»Kerra…«
»Es ist wichtig, Cadan.«
»Wieso? Glaubst du, sie hätte deinen Bruder umgebracht? Wie sollte sie das denn angestellt haben? Indem sie ihn über den Rand der Klippe schubst?«
»Seine Ausrüstung wurde manipuliert. Das hat der Polizist gesagt.«
Cadan riss die Augen auf. »Augenblick mal, Kerra. Nie im Leben… Ich meine, nie und nimmer… Sie war vielleicht von der Rolle wegen all dem, was zwischen ihnen gelaufen ist, aber meine Schwester ist doch keine…« Er unterbrach sich. Nicht weil er an Madlyns Unschuld zweifelte, sondern weil sein Blick zum Strand hinuntergewandert war, wo ein Surfer vorüberlief. Er hatte sich das Brett unter den Arm geklemmt, und die Leine schleifte hinter ihm durch den Sand. Er steckte in einem Neoprenanzug, wie es um diese Jahreszeit bitter nötig war und bei den derzeitigen Wassertemperaturen. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Auf diese Entfernung konnte man nicht einmal ausmachen, ob der Surfer männlich oder weiblich war.
»Was?«, hakte Kerra nach.
Cadan schauderte. Er sagte leise: »Madlyns Reaktion auf die Sache mit ihr und Santo war vielleicht ein bisschen extrem. Das geb ich ja zu.«
»Das kannst du wohl laut sagen.«
»Aber den Exfreund einfach kaltmachen gehört nicht zu ihrem Repertoire, klar? Mein Gott, Kerra, sie hat geglaubt, er durchliefe nur eine Phase!«
»Zu Anfang«, schränkte Kerra ein.
»Okay. Vielleicht hat sie das nur zu Anfang geglaubt. Aber das heißt nicht, dass sie irgendwann erkannt hat, wie die Dinge wirklich lagen, und zu dem Schluss gekommen ist, die einzig vernünftige Lösung wäre, ihn umzubringen, verstehst du?«
»Liebe kann man nicht verstehen«, erwiderte sie. »Die Menschen tun die verrücktesten Dinge, wenn sie jemanden lieben.«
»Ach ja?«, fragte Cadan. »Ist das so? Und was ist mit dir?«
Sie antwortete nicht.
»Keine weiteren Fragen«, erklärte er und fügte dann hinzu: »Sea Dreams, wenn du's genau wissen willst.«
»Was ist das?«
»Da steckt sie. Jago hat einen Wohnwagen in dem Caravanpark, wo früher mal die Molkerei war. Drüben hinter Sawsneck Down. Wenn du sie verhören willst, tu's da. Aber du verschwendest nur deine Zeit.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass ich sie verhören will?«
»Na ja, irgendwas willst du auf jeden Fall«, entgegnete Cadan.
Sobald Bea Hannaford Lynley einen Leihwagen beschafft hatte, wies sie ihn an, ihr zu folgen. »Ich nehme an, das ist nicht Ihre gewohnte Wagenklasse«, bemerkte sie in Bezug auf den Ford. »Aber wenigstens passen Sie hinein.«
Unter anderen Umständen hätte Lynley ihr vielleicht versichert, sie sei überaus großzügig. Tatsächlich war diese Art von Bemerkung dank seiner Erziehung geradezu ein Automatismus. Doch unter den derzeitigen Umständen erklärte er lediglich, dass sein eigener Wagen im Februar einen Totalschaden erlitten, er noch keinen Ersatz beschafft habe und der Ford daher völlig ausreichend sei.
»Gut«, sagte sie und schärfte ihm ein, anständig zu fahren, da er bis zum Eintreffen seiner Brieftasche ohne Führerschein unterwegs sein werde. »Das soll unser kleines Geheimnis bleiben«, fügte sie hinzu. Und dann wollte sie ihm etwas zeigen.
Gehorsam folgte er ihr nach Casvelyn. Er versuchte, sich auf das Fahren zu konzentrieren, aber er spürte, wie seine Kraft allein durch diesen Willensakt schwand.
Er hatte sich eingeredet, er sei ein für alle Mal fertig mit Mord und Totschlag. Man sah nicht den Tod einer geliebten Frau mit an — Opfer einer sinnlosen, willkürlichen Tat auf offener Straße — und sagte sich dann einfach: Morgen ist ein neuer Tag. Morgen war vielmehr etwas, was man ertragen musste. Bisher hatte er die endlose Abfolge von Tagen nur ertragen, indem er das getan hatte, was unmittelbar vor ihm lag, und sonst nichts.
Zuerst Howenstow. Er hatte sich um verschiedene Angelegenheiten des Landsitzes gekümmert, der sein Erbe war, und das große Haus inmitten dieses Landsitzes. Er hatte nicht darüber nachgedacht, dass seine Mutter, sein Bruder und ein Verwalter diese Aufgabe jahrelang ohne ihn gemeistert hatten. Er hatte sich in Arbeit vergraben, um zu verhindern, dass er gänzlich abstürzte, bis die eine Hälfte seiner Projekte im Chaos versank und die andere im Desaster geendet hatte. Der behutsame Tadel seiner Mutter: »Lass mich das erledigen, Liebling« oder: »John Penellin ist seit Wochen mit dieser Sache befasst, Tommy« und ähnliche Bemerkungen fegte er mit einer solchen Schroffheit beiseite, dass sie lediglich seufzte, seine Schulter drückte und ihn gewähren ließ.
Doch er hatte festgestellt, dass Howenstow und seine Belange ihm Helen ins Gedächtnis riefen, ob er wollte oder nicht: Das halbfertige Kinderzimmer musste leer geräumt werden. Die Kleidungsstücke, die Helen dort deponiert hatte, galt es auszusortieren. Eine Gedenktafel für ihre Ruhestätte in der Kapelle — die Ruhestätte, die sie mit ihrem ungeborenen Sohn teilte — musste entworfen werden. Und dann all die Dinge, die ihn an sie erinnerten: der Pfad, den sie gemeinsam vom Haus durch den Wald und hinüber zur Bucht genommen hatten. Die Ahnengalerie, wo sie vor den Gemälden gestanden und seine Züge scherzhaft mit denen einiger seiner fragwürdigeren Vorfahren verglichen hatte. Die Bibliothek, wo sie alte Ausgaben von Country Life durchgeblättert, sich mit einer dicken Biografie über Oscar Wilde aufs Sofa gelegt hatte und schließlich darüber eingeschlummert war…
Weil er sich überall in Howenstow an Helen erinnert fand, hatte er seine Wanderung begonnen. Den Südwestküstenpfad entlangzuwandern, wäre das Letzte gewesen, was Helen sich vorgenommen hätte. (»Du meine Güte, Tommy, du musst den Verstand verloren haben! Was für Schuhe sollte ich tragen, die nicht absolut schauderhaft aussähen?«) Er wusste also, dass er diese Wanderung gefahrlos antreten konnte. Nichts auf dem Weg würde ihn an sie erinnern.
Doch er hatte nicht mit all den Orten des Gedenkens gerechnet. Nichts, was er vor seinem Aufbruch über diesen Wanderweg gelesen hatte, hatte ihn darauf vorbereitet. Von schlichten, verwelkenden Blumensträußen bis hin zu den Sitzbänken, in die die Namen der Verstorbenen geschnitzt waren, begegnete er dem Tod tagaus, tagein. Er hatte New Scotland Yard verlassen, weil er dem plötzlichen, brutalen Ende eines menschlichen Lebens nicht mehr ins Auge sehen konnte, aber hier war er damit in einer Regelmäßigkeit konfrontiert, die all seine Mühen zu verspotten schien.
Und nun das. Detective Inspector Hannaford bezog ihn vielleicht nicht direkt in die Mordermittlung ein, aber sie brachte ihn in deren Nähe. Das wollte er nicht, aber er wusste nicht, wie er es hätte verhindern können, denn Hannaford schien ihm eine Frau zu sein, die meinte, was sie sagte: Wenn er sich aus der Umgebung von Casvelyn davonstahl, würde sie nicht rasten, ehe sie ihn zurückgeholt hatte.
Und das, was zu tun sie ihn gebeten hatte… Genau wie DI Hannaford war er überzeugt, dass Daidre Trahair bezüglich der Route, die sie am Vortag von Bristol nach Polcare Cove genommen hatte, log. Und im Gegensatz zu Hannaford wusste Lynley überdies, dass Daidre Trackhair auf die Frage, ob sie Santo Kerne gekannt habe, sogar mehr als einmal gelogen hatte. Es musste Gründe für diese Lügen geben, die weit über jene hinausgingen, die die Tierärztin angeführt hatte, als er sie damit konfrontiert hatte, und er war sich nicht sicher, ob er diese Gründe kennen wollte. Ihre Motive waren zweifellos persönlicher Natur, und die arme Frau war schwerlich eine Mörderin.
Aber wieso glaubte er das eigentlich, fragte er sich. Er wusste besser als die meisten, dass es Mörder in jeglicher Gestalt gab. Mörder konnten Männer oder Frauen sein. Oder wie er zu seinem Entsetzen hatte erfahren müssen Kinder. Und ganz gleich wie widerwärtig die Opfer gewesen sein mochten: Niemand hatte das Recht, sie vorzeitig aus dem Leben in die ewige Seligkeit oder Verdammnis zu schicken. Die Überzeugung, dass Mord falsch war, gehörte zu den Grundfesten der Gesellschaft. Genau wie die, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werden musste, damit die ganze Angelegenheit zu einem Abschluss kam, auch wenn dies niemals Befriedigung, Erleichterung oder gar das Ende der Trauer bedeuten konnte. Gerechtigkeit bedeutete, den Täter zu finden und zu verurteilen, und diese Gerechtigkeit war den Hinterbliebenen der Opfer geschuldet.