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Ein Teil von Lynley wollte vehement einwenden, dass das alles nicht sein Problem sei. Der andere Teil wusste, dass es das immer und inzwischen mehr denn je sein würde.

Bis sie Casvelyn erreichten, hatte er sich mit der Situation vielleicht nicht gerade abgefunden, aber doch zumindest arrangiert. In einer Ermittlung musste man allem nachgehen. Und Daidre Trahair hatte sich mit der ersten Lüge zu einem Teil von "allem" gemacht.

Die Polizeiwache von Casvelyn lag im Stadtzentrum zwischen Lansdown Close und Belle Vue Lane am höchsten Punkt des Ortes. Vor dem schlichten grauen zweistöckigen Gebäude parkte Bea Hannaford. Lynley glaubte, sie wollte ihn mit hineinnehmen und den Kollegen vorstellen, doch stattdessen sagte sie: »Kommen Sie mit!«, legte eine Hand auf seinen Ellbogen und führte ihn zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Wo Lansdown Close und Belle Vue Lane ineinandermündeten, überquerten sie eine dreieckige Grünfläche. Bänke, ein Brunnen und drei Bäume bildeten hier Casvelyns einzigen Freiluftversammlungsort. Von dort gelangten sie zur Queen Street, die genau wie die Belle Vue Lane von Geschäften gesäumt war: Von Möbelhäusern bis hin zu Apotheken war hier alles zu finden. Bea Hannaford hielt inne, sah in beide Richtungen die Straße entlang, bis sie offenbar entdeckte, wonach sie gesucht hatte. »Ja. Dort drüben. Ich wollte sehen, womit wir es zu tun haben.«

"Dort drüben" verortete ein Sportgeschäft, das sowohl Ausrüstung als auch Bekleidung für alle möglichen Outdoor-Aktivitäten feilbot. Hannaford erkundete den Laden in bewundernswert kurzer Zeit, fand, wonach sie suchte, versicherte dem Verkäufer, sie benötige keine Hilfe, und führte Lynley zu einer Wand im hinteren Teil des Ladens. Dort hingen unterschiedliche Metallgegenstände, die meisten aus Edelstahl und — unschwer zu erraten — für den Klettersport bestimmt.

Sie wählte einen Gegenstand aus, der aus drei Komponenten bestand: aus einem dicken Bleikeil, in der Länge doppelt durchbohrt, und durch die beiden parallelen Löcher verlief ein stabiles Stahlkabel von etwa einem halben Zentimeter Stärke, das hinter dem Keil zu einer flachen Schlaufe gelegt war, auf der freiliegenden Seite jedoch eine längere, bewegliche Schlinge bildete. Der Kabelstrang wurde von einer dicken Kunststoffummantelung fest zusammengehalten.

»Das hier ist ein Klemmkeil«, erklärte Hannaford Lynley. »Wissen Sie, wie man ihn anwendet?«

Lynley schüttelte den Kopf. Nun, offensichtlich war er zum Klettern gedacht. Und ebenso offensichtlich war, dass die Schlinge dazu dienen sollte, ihn mit einem anderen Hilfsmittel zu verbinden. Aber mehr konnte er sich nicht erschließen.

»Heben Sie die Hand, Innenfläche dem Körper zugedreht. Finger ausgestreckt und zusammen. Ich zeige es Ihnen.«

Lynley tat, worum sie gebeten hatte. Sie schob das Kabel zwischen seinen ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger, sodass der Keil in seiner Handfläche lag und die Schlaufe über seinen Handrücken fiel.

»Ihre Finger sind ein Felsspalt«, erklärte sie. »Oder ein Schlitz zwischen zwei Felsblöcken. Ihre Hand ist die Klippe selbst. Beziehungsweise der Felsblock. Klar so weit?« Sie wartete sein Nicken ab. »Das Blei der eigentliche Klemmkeil wird, so weit es geht, in den Felsspalt gesteckt, und das Seil schaut heraus. In die Schlaufe…« Sie unterbrach sich, suchte mit den Augen die Wand ab, bis sie gefunden hatte, was sie benötigte, und griff danach, »… haken Sie einen Karabiner. So.« Sie führte es vor. »Dann befestigen Sie Ihr Seil mit einem Knoten an dem Karabiner. Wenn Sie nach oben klettern, benutzen Sie ein bis zwei Klemmkeile pro Meter oder was immer Ihnen behagt. Beim Abseilen können Sie sie oben anstatt einer Schlinge benutzen, um Ihr Seil an dem Fixpunkt zu befestigen, der Ihr Gewicht beim Abstieg halten soll.«

Sie nahm ihm den Klemmkeil ab und hängte ihn zusammen mit dem Karabiner zurück an die Wand. Dann wandte sie sich zu ihm um und sagte: »Kletterer kennzeichnen jedes Teil ihrer Ausrüstung, weil sie oft zu mehreren klettern. Sagen wir, Sie und ich wollen klettern. Ich benutze sechs Klemmkeile, Sie zehn. Wir nehmen meine Karabiner, aber Ihre Schlingen. Wie bekommen wir all das am Ende wieder ohne Streitereien auseinandersortiert? Indem wir jedes einzelne Teil mit etwas markieren, das sich nicht leicht ablöst. Farbiges Klebeband zum Beispiel ist perfekt. Santo Kerne hat schwarzes Isoliertape benutzt.«

Lynley erkannte, worauf sie mit alledem hinauswollte. »Wenn also jemand mit der Ausrüstung eines Kletterers Schindluder treiben will, muss er sich nur das gleiche Klebeband beschaffen.«

»Und Zugang zu der Ausrüstung selbst. Ja, genau. Man kann den Gegenstand beschädigen, identisches Klebeband verwenden, um den Schaden zu überdecken, und niemand merkt etwas.«

»Wie offenbar im Fall der Schlinge. Sie wäre wohl am einfachsten zu manipulieren obwohl der Schnitt sichtbar sein würde. Wenn nicht für das bloße Auge, so doch unter dem Mikroskop.«

»Und genau das ist passiert. Wie wir schon besprochen haben.«

»Aber das war noch nicht alles, richtig? Sonst hätten Sie mir das hier nicht gezeigt.«

»Die Kriminaltechnik hat Santos gesamte Ausrüstung untersucht«, berichtete Hannaford. Mit der Hand an seinem Ellbogen führte sie ihn wieder aus dem Geschäft. Sie hielt die Stimme gesenkt. »Zwei der Klemmkeile waren manipuliert. Unter dem schwarzen Isolierband waren sowohl die Kunststoffummantelung als auch das Stahlseil beschädigt. Die Ummantelung war durchgeschnitten, genau wie der Stahldraht selbst. Das Seil hing nur noch am sprichwörtlichen seidenen Faden. Das Schicksal des Jungen war im Grunde besiegelt. Er ist zwar noch zum Klettern gefahren, aber eigentlich war er schon so gut wie tot. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das manipulierte Ausrüstungsteil im denkbar schlechtesten Moment benutzte.«

»Fingerabdrücke?«

»Jede Menge«, antwortete Hannaford. »Aber ich weiß nicht, wie viel sie uns nützen werden, denn die wenigsten Kletterer klettern allein, und vermutlich werden wir feststellen, dass das auch für Santo galt.«

»Es sei denn, es gibt einen Fingerabdruck auf einem der beschädigten Ausrüstungsteile, der sich auf keinem anderen findet. Da hätte jemand seine liebe Mühe, das zu erklären.«

»Hm. Ja. Aber die ganze Sache gibt mir Rätsel auf, Thomas.«

»Welche Sache genau?«, fragte Lynley.

»Drei manipulierte Ausrüstungsteile statt einem. Was schließen Sie daraus?«

Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er nachdenklich: »Ein einziges beschädigtes Ausrüstungsteil hätte ausgereicht, um ihn umzubringen. Aber er trug drei bei sich. Das könnte bedeuten, dass es dem Mörder gleichgültig war, wann es geschah oder ob der Sturz sein Opfer überhaupt tötete, denn Santo hätte die Klemmkeile ja auch ganz weit unten an einer Felswand benutzen können.«

»Irgendwelche weiteren Schlüsse?«

»Wenn der Junge sich grundsätzlich zuerst abseilte und anschließend wieder nach oben kletterte, könnten drei manipulierte Teile auch darauf hindeuten, dass der Mörder es eilig hatte, ihn loszuwerden. Oder, so unglaublich es auch scheinen mag…« Er grübelte einen Augenblick über die letzte Möglichkeit und welche Konsequenzen sich daraus ergaben.

Sie ermunterte ihn: »Ja?«

»Drei Ausrüstungsteile zu manipulieren… könnte auch bedeuten: Der Mörder wollte alle Welt wissen lassen, dass es Mord war.«