»Wovor?«
»Davor, worauf du dich mit meinem Bruder eingelassen hast…« Kerra sah zu Shar hinüber, deren Augen ein Glitzern angenommen hatten, das einen schier aus der Fassung bringen konnte. »Du weißt genau, was ich meine. Ich habe dir gesagt, wie er war.«
»Aber was du mir nicht gesagt hast, war, wie du warst. Wie du bist. Gehässig und rachsüchtig. Sieh dich doch an, Kerra. Hast du überhaupt geweint? Dein Bruder ist tot, und da stehst du, als wäre nichts, und radelst fröhlich durch die Gegend.«
»Du raufst dir auch nicht gerade die Haare«, konterte Kerra.
»Wenigstens wollte ich nicht, dass er stirbt.«
»Wirklich nicht? Warum arbeitest du hier? Was ist mit der Farm?«
»Ich hab auf der Farm gekündigt, okay?« Ihr Gesicht hatte sich gerötet. Der Griff, mit dem sie das Backblech umklammerte, war jetzt so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Bist du jetzt glücklich, Kerra? Hast du erfahren, was du wissen wolltest? Ich hab die Wahrheit rausgekriegt. Und willst du wissen, wie ich das angestellt habe? Er hat natürlich behauptet, er wäre immer ehrlich zu mir gewesen, aber als es zu dieser Sache kam… Ach, verschwinde einfach. Raus hier!« Sie hob das Blech, als wollte sie es werfen.
»Hey, Madlyn…«, begann Shar nervös. Vermutlich hatte sie noch nie gesehen, zu welchem Zorn Madlyn Angarrack fähig war, dachte Kerra. Zweifellos hatte Shar noch nie ein Päckchen geöffnet und darin Fotos von sich mit abgeschnittenem Kopf gefunden, Fotos, auf denen ihre Augen mit einer Bleistiftspitze ausgestochen waren. Oder handgeschriebene Briefe und Geburtstagskarten, einst liebevoll aufbewahrt, aber jetzt mit Kot beschmiert. Einen Zeitungsartikel über die Cheftrainerin von Adventures Unlimited, auf den mit Rotstift die Worte "Dreck" und "Scheiße" geschmiert waren. Ohne Absenderadresse, aber die war auch gar nicht nötig gewesen. Ebenso wenig wie irgendein Begleitschreiben, waren die Absichten der Absenderin doch durch den Inhalt der Sendungen offensichtlich.
Diese Eigenschaft ihrer einstigen Freundin war ein weiterer Grund, warum Kerra mit Madlyn Angarrack hatte sprechen wollen. Kerra hatte ihren Bruder vielleicht gehasst, aber irgendwie hatte sie ihn auch geliebt. Es hatte nichts damit zu tun, dass Blut dicker war als Wasser. Aber es hatte auf alle Fälle etwas mit Blut zu tun.
8
»Ich weiß, es ist gerade kein guter Zeitpunkt, um darüber zu reden«, sagte Alan Cheston. »Es wird lange keinen guten Zeitpunkt geben, um irgendetwas zu besprechen, und ich schätze, das wissen wir beide. Aber die Sache ist die… Diese Jungs haben einen engen Terminplan. Wenn wir ihnen den Auftrag geben wollen, müssen wir es sie bald wissen lassen, sonst gucken wir in die Röhre.«
Ben Kerne nickte mechanisch. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendein Thema rational zu erörtern, ganz zu schweigen von einem geschäftlichen Thema. Das Einzige, was er sich vorstellen konnte, war, seine Wanderung durch die Flure des King-George-Hotels wieder aufzunehmen, eine Schulter an der Wand, den Kopf gesenkt, um den Fußboden zu studieren. Einen Flur hinunter, den nächsten hinauf, durch eine Feuertür und die Treppe nach oben, um mit einem neuen Flur zu beginnen. Weiter und immer weiter, wie ein Gespenst, bis in alle Ewigkeit. Manchmal dachte er daran, wie viel sie ausgegeben hatten, um das alte Hotel umzubauen, und er fragte sich, welchen Sinn es hatte, noch mehr zu investieren. Er fragte sich, welchen Sinn überhaupt irgendetwas noch hatte, und dann versuchte er, gar nicht mehr zu denken.
So hatte er es am gestrigen Abend getan. Dellen hätte Tabletten gehabt, aber er weigerte sich, sie zu nehmen.
Ben sah Alan an. Er nahm ihn wie durch einen Nebel wahr, so als existierte ein Schleier zwischen seinen Augen und dem Hirn. Er hörte den jüngeren Mann, war jedoch unfähig zu verarbeiten, was er da hörte. Also sagte er: »Sprich weiter. Ich verstehe«, obwohl er Ersteres nicht wollte und Letzteres nicht der Wahrheit entsprach.
Sie befanden sich im Marketingbüro, das einmal ein kleiner Konferenzraum gewesen war und hinter der Rezeption lag. Vermutlich war es für Dienstbesprechungen genutzt worden, als das Hotel noch in Betrieb war. Eine uralte Tafel hing an der Wand, und darauf waren noch immer geisterhafte Spuren einer Handschrift zu erkennen zweifellos die eines Managers, der seine Mitarbeiter gern auf Kurs gebracht hatte, indem er einzelne Worte emphatisch unterstrich. Unterhalb der Tafel und umlaufend an allen vier Wänden befand sich eine verschrammte Holztäfelung, darüber eine Tapete mit verblassten Jagdszenen. Als sie das Hotel übernommen hatten, hatten die Kernes beschlossen, den Raum so zu belassen. Niemand außer ihnen würde ihn je zu Gesicht bekommen, und sie waren übereingekommen, dass man das Geld anderweitig profitabler anlegen konnte.
Und das war auch der Grund für diese Besprechung mit Alan. Ben konzentrierte sich auf das, was der junge Mann ihm erzählte: »… müssen die Kosten als gewinnträchtige Investition betrachten. Außerdem fallen diese Kosten nur einmalig an, aber wir haben die Möglichkeit einer mehrmaligen Nutzung, also wird es sich schnell amortisieren. Wir müssen nur darauf achten, alles zu vermeiden, was das Entstehungsdatum verrät. Du weißt, was ich meine: Aufnahmen von Autos oder andere Motive, die in fünf Jahren anachronistisch erscheinen könnten. Vielmehr sollten wir zeitlos historische Motive wählen. So was in dieser Art. Hier. Dieses Beispiel haben sie vor ein paar Tagen geschickt. Ich habe es Dellen schon gezeigt, aber wahrscheinlich hat sie… Nun, verständlicherweise hat sie nicht mit dir darüber gesprochen.« Alan stand vom Konferenztisch auf einem verschrammten Kiefernholzmöbel mit zahllosen Brandflecken von vergessenen Zigaretten und schritt zum Videorekorder hinüber. Sein Gesicht war wie von Fieber gerötet, und nicht zum ersten Mal fragte sich Ben, welche Art Beziehung seine Tochter mit diesem Mann hatte. Er nahm an, er wusste den Grund, warum Kerra Alan gewählt hatte, aber er war einigermaßen sicher, dass sie sich in mehr als einem Punkt in ihm irrte.
Ben war unfähig gewesen, die nötige Willenskraft aufzubringen, um das Marketingmeeting abzusagen. Schweigend saß er nun da und fragte sich, wer von ihnen beiden der herzlosere Bastard war: Alan, weil er scheinbar weitermachte, als wäre nichts passiert, oder er selbst, weil er jetzt hier war. Dellen hätte eigentlich auch an dem Meeting teilnehmen sollen, weil sie ebenfalls im Marketing arbeitete, aber sie war nicht einmal aufgestanden.
Auf dem Fernsehschirm begann ein Werbefilm über eine Ferienanlage auf den Scilly-Inseln: ein Luxushotel mit Wellnessbereich und Golfplatz. Es sprach nicht dieselbe Klientel an wie Adventures Unlimited, aber das war ja auch nicht der Grund, warum Alan es ihm vorführte.
Eine sonore Stimme sprach die Kommentare, die das Hotel dem Publikum schmackhaft machen sollten. Während die Stimme die Vorzüge der Anlage aufzählte, zeigten die Bilder das Hotel oberhalb eines weißen Strandes, Besucher des Wellnessbereichs, die sich von geschickten, sonnengebräunten Masseurinnen verwöhnen ließen, Golfer, die auf Bälle eindroschen, Restaurantgäste auf Terrassen oder in kerzenbeleuchteten Sälen. Dies sei die Art Film, die auf Reisemessen gezeigt werde, erklärte Alan. Das könnten sie auch, wobei sie ein wesentlich breiteres Publikum anzusprechen vermochten. Das war es also, was Alan wollte: Bens Zustimmung, im Marketing für Adventures Unlimited neue Wege einzuschlagen.
»Wie du sagtest, kommen jetzt verstärkt Buchungen rein«, bemerkte Alan, als der Film zu Ende war. »Und das ist großartig, Ben. Der Bericht, den die Mail on Sunday über dich und deine Pläne gebracht hat, war eine enorme Verkaufshilfe. Aber es wird Zeit, dass wir uns dem Potenzial für einen größeren Markt zuwenden.« Er zählte die Möglichkeiten an den Fingern ab. »Familien mit Kindern zwischen sechs und sechzehn. Privatschulen, die ihre Schüler auf einwöchige Erlebnisfreizeiten schicken. Singles auf Partnersuche. Rüstige Rentner, die ihren Lebensabend nicht in irgendeinem Schaukelstuhl verbringen wollen. Und dann gibt es da noch Drogenentzugsprogramme, Rehabilitation für jugendliche Straftäter und Programme für Großstadtkinder. Wir haben einen riesigen Markt da draußen, und ich kann dafür sorgen, dass er sich uns öffnet.«