Der junge Mann war kein Idiot. Anders als die Laurel- und Hardy-Imitate, mit denen sie geschlagen war, erkannte Alan Cheston messerscharf, worauf sie hinauswollte. Er erklärte: »Tatsächlich war Santo ein bisschen erleichtert, als er erfahren hat, dass ich hier arbeiten würde. Es befreite ihn von unliebsamem Druck.«
»Was für ein Druck?«
»Er hätte mit seiner Mutter zusammenarbeiten müssen, und das wollte er nicht. Oder zumindest hat er mich das glauben lassen. Er war für diesen Bereich des Unternehmens nicht geeignet.«
»Aber Sie schon? Ihnen gefällt dieser Bereich? Und die Tatsache, dass Sie mit ihr zusammenarbeiten?«
»Absolut.« Er sah Bea in die Augen, während er das sagte, und hielt seinen Körper vollkommen reglos. Sie fragte sich unwillkürlich, welcher Art die Lüge war, die er soeben offenkundig ausgesprochen hatte.
»Ich würde mir gern Santos Kletterausrüstung ansehen. Wenn Sie sie mir zeigen könnten, Mr. Cheston«, bat sie.
»Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wo er sie aufbewahrt hat.«
Auch das musste sie infrage stellen. Die Antwort war so prompt gekommen, als hätte er mit der Bitte gerechnet.
Sie war im Begriff, noch einmal nachzuhaken, als er sagte: »Da kommt Ben — mit Dellen.« Sie hörten die alte Liftkabine herunterkommen. Bea stellte dem jungen Mann in Aussicht, dass sie sich bestimmt noch einmal sprechen würden.
»Jederzeit«, antwortete er. »Wann immer Sie wünschen, Inspector.«
Er kehrte in sein Büro zurück, noch ehe der Aufzug das Erdgeschoss erreichte und die Kernes ausspuckte. Ben trat zuerst heraus und streckte die Hand aus, um seiner Frau behilflich zu sein. Sie kam langsam, wirkte wie eine Schlafwandlerin. Medikamente, dachte Bea. Die Frau hatte Beruhigungsmittel eingenommen; bei der Mutter eines toten Kindes kaum überraschend.
Unerwartet war hingegen ihre Erscheinung. Die höfliche Umschreibung hätte "verblasste Schönheit" gelautet. Dellen Kerne war irgendwo Mitte vierzig und litt unter dem Fluch üppiger Frauen: Die Kurven und Rundungen ihrer Jugend waren mit den Jahren aus dem Leim gegangen. Außerdem hatte sie geraucht oder tat es womöglich immer noch, denn sie hatte deutliche Krähenfüße um die Augen und Furchen um den Mund. Sie war nicht dick, aber sie hatte auch nicht den durchtrainierten Körper ihres Mannes. Zu wenig Sport und Selbstbeherrschung, schloss Bea.
Und trotzdem achtete diese Frau auf ihr Äußeres: pedikürte Füße. Manikürte Hände. Volles blondes Haar mit einem hübschen Glanz, große veilchenblaue Augen mit dichten, dunklen Wimpern und eine Art, sich zu bewegen, die um Hilfe bettelte. Troubadoure hätten sie eine Maid genannt. Für Bea war sie eine tickende Zeitbombe, und sie war entschlossen herauszufinden, warum.
»Mrs. Kerne. Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen«, sagte sie. Und an Ben Kerne gewandt, fügte sie hinzu: »Können wir irgendwo in Ruhe reden? Es sollte nicht gar zu lange dauern.« Letzteres war typischer Polizeijargon. Es würde genau so lange dauern, bis Bea zufrieden war.
Ben Kerne schlug vor, in den ersten Stock des Hotels hinaufzugehen. Die dortige Gästelounge sei wohl am geeignetsten.
Das war sie in der Tat. Der Raum bot einen Ausblick auf St. Meckvan Beach und war mit plüschigen, aber strapazierfähigen neuen Sofas ausgestattet, einem Großbildfernseher, einem DVD-Player, Stereoanlage, einem Billardtisch und einer Kochnische. Letztere sollte wohl vornehmlich zum Teekochen dienen und verfügte außerdem über eine glänzende Cappuccinomaschine aus Edelstahl. Die Wände zierten Poster mit alten Sportszenen aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren: Skifahrer, Wanderer, Radfahrer, Schwimmer und Tennisspieler. Die Einrichtung war gut durchdacht und ansprechend ausgeführt. Hier war viel Geld hineingesteckt worden.
Bea hätte gerne gewusst, woher das Geld für dieses Projekt gekommen sein mochte, und sie scheute sich nicht, danach zu fragen.
Statt zu antworten, erkundigte Ben Kerne sich jedoch, ob die Beamten einen Kaffee wünschten. Bea lehnte für sie beide ab, noch ehe Constable McNulty, der hoffnungsvoll von seinem Notizblock aufgeblickt hatte, das Angebot annehmen konnte. Kerne trat trotzdem an die Maschine und sagte: »Wenn Sie nichts dagegen haben…« Er drückte einen Knopf, es brauste, und dann drängte er das Gebräu seiner Frau auf. Teilnahmslos nahm sie die Tasse entgegen. Er bat sie, einen Schluck zu trinken, und er klang besorgt. Dellen erwiderte, sie wolle nichts, aber Ben beharrte: »Du musst.« Sie sahen sich an, und in ihren Blicken lag für einen Moment ein Ausdruck von Kräftemessen. Dellen war diejenige, die als Erste blinzelte. Sie führte die Tasse an die Lippen und setzte nicht wieder ab, ehe sie sie ganz geleert hatte. Ein verstörend roter Abdruck blieb dort zurück, wo ihre Lippen das Steingut berührt hatten.
Bea fragte, wie lange sie schon in Casvelyn lebten, und Ben antwortete, seit zwei Jahren. Vorher hätten sie in Truro gewohnt, wo er zwei Sportgeschäfte besessen habe. Die habe er zusammen mit ihrem Privathaus verkauft, um wenigstens teilweise das nötige Startkapital für Adventures Unlimited zusammenzubringen. Natürlich habe er weiteres Geld von der Bank geliehen. Ein solches Projekt stemme man nicht mit nur einer Finanzquelle. Mitte Juni wollten sie eröffnen, erklärte er. »Zumindest war das unsere Absicht. Jetzt… weiß ich nicht mehr.«
Bea ging für den Moment nicht darauf ein. »Sind Sie in Truro aufgewachsen, Mr. Kerne?«, fragte sie. »War die Sache mit Ihnen und Ihrer Frau eine Sandkastenliebe?«
Er zögerte aus irgendeinem Grund und sah zu Dellen hinüber, als überlegte er, wie er seine Antwort am besten formulieren sollte. Bea fragte sich, was genau ihn ins Stocken gebracht hatte: die Frage nach Truro oder die nach der Sandkastenliebe.
»Nicht in Truro, nein«, antwortete er schließlich. »Aber was die Sandkastenliebe betrifft…« Er sah wieder zu seiner Frau, und sein Ausdruck war unzweifelhaft liebevoll. »Wir sind mehr oder weniger seit unserer Jugendzeit zusammen. Fünfzehn und sechzehn waren wir, oder, Del?« Er wartete ihren Kommentar nicht ab. »Aber es ging wie bei den meisten Kids. Ein Weilchen zusammen, dann ein Weilchen getrennt. Dann kam die Versöhnung, und wir waren wieder zusammen. So ging es sechs oder sieben Jahre lang, ehe wir geheiratet haben, stimmt's nicht, Del?«
Dellen sagte: »Ich weiß es nicht. Ich habe das alles vergessen.« Sie hatte eine raue Stimme — eine Raucherstimme. Sie passte zu ihr. Alles andere wäre überraschend gewesen.
»Wirklich?« Er sah von ihr zu Bea. »Es schien ewig zu gehen, das Drama unserer Teenagerzeit. Wie das eben so ist, wenn man an jemandem hängt.«
»Was für ein Drama?«, fragte Bea, während Constable McNulty an ihrer Seite mit befriedigendem Eifer vor sich hin kritzelte.
»Ich hab rumgevögelt«, erklärte Dellen unverblümt.
»Del…«
»Sie wird die Wahrheit vermutlich sowieso rausfinden, also können wir sie ihr auch gleich sagen«, entgegnete Dellen. »Ich war die Dorfschlampe, Inspector.« Und dann zu ihrem Mann: »Kannst du mir noch einen Kaffee machen, Ben? Aber bitte heißer. Der hier war nur lauwarm.«
Bens Miene hatte sich versteinert, während sie sprach. Nach einem winzigen Zögern stand er von dem Sofa auf, wo er neben seiner Frau gesessen hatte, und ging zurück zur Cappuccinomaschine. Bea ließ zu, dass das Schweigen sich in die Länge zog, und als Constable McNulty sich räusperte, als wollte er etwas sagen, trat sie ihn auf den Fuß, damit er die Klappe hielt. Sie hatte ganz und gar nichts einzuwenden gegen Spannungen während eines Verhörs, vor allem dann, wenn einer der Verdächtigen den anderen damit unbeabsichtigt unter Druck setzte.
Dellen sprach schließlich weiter, aber es war Ben, den sie dabei ansah, als beinhalteten ihre Worte eine geheime Botschaft an ihn: »Wir haben unten an der Küste gelebt, Ben und ich, nicht in Newquay oder so, wo einem wenigstens ein bisschen was geboten worden wäre. Wir stammen aus einem Dorf, wo es nichts anderes gab als den Strand im Sommer und Sex im Winter. Manchmal auch Sex im Sommer, wenn das Wetter nicht gut genug war für den Strand. Wir waren immer in einer Gruppe unterwegs, einer Jugendclique, und da ging es eben ziemlich hoch her. Mal war man mit dem zusammen, mal mit jenem. Das heißt, bis wir nach Truro kamen. Ben ist zuerst gegangen, und ich — kluges Mädchen — bin ihm nachgefolgt. Von da an war alles anders. In Truro hat sich das Leben für uns verändert.«