Ben kam mit ihrem Kaffee zurück. Er brachte auch eine Schachtel Zigaretten mit, die er irgendwo in der Kochnische gefunden hatte, zündete eine an und reichte sie ihr. Dann setzte er sich ganz nah neben sie.
Dellen schüttete den Kaffee ebenso hinunter wie den ersten, als wäre ihr Mund mit Asbest ausgepolstert. Dann zog sie tief an der Zigarette. Sie inhalierte doppelt, bemerkte Bea: Sie zog den Rauch ein, ließ ein bisschen wieder heraus und sog alles wieder ein. An Dellen Kerne sah es aus wie ein Kunststück. Bea versuchte, sich auf die Frau zu fokussieren. Dellens Hände bebten.
»Die Großstadtlichter?«, fragte Bea die Kernes. »War es das, was Sie nach Truro gelockt hat?«
»Wohl kaum«, entgegnete Dellen. »Ben hatte einen Onkel, der ihn bei sich aufgenommen hat, als er achtzehn war. Ben hatte immerzu Streit mit seinem Vater. Meinetwegen. Dad dachte — Bens Dad, meine ich, nicht meiner, wenn er seinen Sohn aus dem Dorf schafft, würde er ihn auch aus meinen Fängen befreien. Oder mich aus seinen. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich Ben folgen würde. War's nicht so, Ben?«
Ben legte seine Hand über ihre. Sie sagte zu viel, und das war ihnen allen klar, aber allein Ben und seine Frau wussten, warum sie das tat. Bea überlegte, was all das wohl mit Santo zu tun hatte, als Ben den Versuch unternahm, das Gespräch wieder unter seine Kontrolle zu bringen, indem er erklärte: »Das ist nicht ganz richtig. Vielmehr war es so, dass mein Vater und ich nie besonders gut miteinander ausgekommen sind. Sein Traum war es, völlig autark nur von dem zu leben, was das Land zu geben hatte, und nach achtzehn Jahren hatte ich die Nase voll davon. Also bin ich zu meinem Onkel nach Truro gezogen. Dellen folgte mir… ich weiß nicht mehr. Wie lange war es? Acht Monate später?«
»Mir kam es vor wie acht Jahrhunderte«, erwiderte Dellen. »Bei allem, was man mir vorwerfen kann, aber ich konnte eine Chance erkennen, wenn sie sich mir bot. Das kann ich immer noch.« Sie hielt den Blick auf Ben gerichtet, während sie zu Bea sagte: »Ich habe einen wundervollen Mann, dessen Geduld ich jahrelang auf die Probe gestellt habe, Inspector Hannaford. Kann ich noch einen Kaffee haben, Ben?«
»Bist du sicher, dass das klug ist?«, fragte er.
»Aber mach ihn bitte noch heißer. Ich glaube, die Maschine funktioniert nicht richtig.«
Und Bea ging ein Licht auf. Sie verstand plötzlich, was der Kaffee symbolisierte. Dellen hatte ihn nicht gewollt, aber er hatte darauf bestanden. Der Kaffee war eine Metapher, und Dellen Kerne ließ ihren Mann nicht vergessen, wofür er stand.
»Ich hätte gern das Zimmer Ihres Sohnes gesehen«, bat Bea. »Natürlich erst, wenn Sie Ihren Kaffee getrunken haben.«
Daidre Trahair kam entlang der Klippe zurück nach Polcare Cove, als sie ihn entdeckte. Ein frischer Wind wehte, und sie war stehen geblieben, um ihr Haar mit der Perlmuttspange zu bändigen. Den Großteil hatte sie erwischt, die restlichen Strähnen steckte sie sich hinter die Ohren. Und da sah sie ihn, vielleicht hundert Meter südlich von ihr. Offenbar kam er gerade von der Bucht herauf, sodass sie annahm, er wollte seine Wanderung wieder aufnehmen, nachdem Detective Inspector Hannaford jeden Verdacht gegen ihn hatte fallen lassen. Das war ja auch kein Wunder: Sowie er gesagt hatte, er sei von New Scotland Yard, war er über jeden Zweifel erhaben gewesen. Wäre sie selbst nur auch so schlau gewesen…
Doch sie musste ehrlich sein, wenigstens sich selbst gegenüber. Thomas Lynley hatte nie behauptet, er sei von New Scotland Yard. Es waren die beiden Polizisten selbst gewesen, die diesen Schluss gezogen hatten, nachdem er seinen Namen preisgegeben hatte.
»Thomas Lynley«, hatte er gesagt. Und da hatte einer von ihnen — sie wusste nicht mehr, wer — gefragt: »New Scotland Yard?« In einem Tonfall, der Bände zu sprechen schien. Er hatte etwas gesagt, was darauf hindeutete, diese Annahme sei korrekt, und damit war die Sache erledigt gewesen.
Jetzt wusste sie, warum. Denn wenn er Thomas Lynley von New Scotland Yard war, dann war er auch der Thomas Lynley, dessen Frau auf offener Straße vor ihrem Haus in Belgravia erschossen worden war. Jeder Polizist im ganzen Land musste davon gehört haben. Schließlich war die Polizei doch so eine Art Bruderschaft. Daidre wusste, das bedeutete auch, dass landesweit sämtliche Beamten irgendwie miteinander in Verbindung standen. Das durfte sie nicht vergessen. Und sie musste sich in seiner Nähe vorsehen, ganz gleich wie groß sein Schmerz sein mochte oder ihr Drang, diesen Schmerz zu lindern. Jeder trug Schmerz in sich, das wusste sie. Damit fertig zu werden, das war es, worum es im Leben ging.
Er hob einen Arm und winkte. Sie winkte zurück. Sie gingen aufeinander zu. Der Küstenpfad hier oben auf der Klippe war schmal, uneben und mit Steinen übersät. Ginsterbüsche standen dicht an dicht auf der Ostseite, eine gelbe Phalanx, die sich tapfer gegen den Wind stemmte. Jenseits der Ginsterlinie erstreckte sich eine üppige Wiese. Das Gras war kurz, weil hier oft Schafe weideten.
Als sie sich nahe genug waren, um einander über den Wind hinweg hören zu können, fragte Daidre: »Sie brechen wieder auf?« Aber noch während sie sprach, erkannte sie ihren Irrtum und fuhr fort: »Aber Sie haben Ihren Rucksack gar nicht dabei. Also lautet die Antwort wohclass="underline" Nein.«
Er nickte ernst. »Sie gäben eine gute Polizistin ab.«
»Ich fürchte, das war eine ziemlich simple Schlussfolgerung. Alles darüber hinaus würde meiner Aufmerksamkeit entgehen. Machen Sie einen Spaziergang?«
»Ich habe Sie gesucht.« Der Wind zerzauste sein Haar genauso wie ihres, und er strich es sich aus der Stirn. Wieder fiel ihr auf, wie ähnlich seine Haarfarbe der ihren war. Vermutlich wurde er im Sommer hellblond.
»Mich?«, fragte sie. »Woher wussten Sie, wo ich zu finden bin? Nachdem Sie erfolglos am Cottage angeklopft hatten, meine ich. Ich hoffe zumindest, ich darf davon ausgehen, dass Sie dieses Mal angeklopft haben. Viel mehr Fenster habe ich nämlich nicht zu bieten.«
»Ich habe angeklopft«, versicherte er. »Als niemand öffnete, habe ich mich umgeschaut und die frischen Fußspuren entdeckt, denen ich dann gefolgt bin. Es war ganz einfach.«
»Und hier bin ich«, bemerkte sie.
»Und hier sind Sie.«
Er lächelte und schien einen Moment zu zaudern. Das überraschte Daidre, denn er kam ihr nicht wie ein Mann vor, der jemals zauderte. »Und?«, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite. Ihr fiel auf, dass er eine Narbe an der Oberlippe hatte, ein wohltuender kleiner Makel in seinem ansonsten so klassisch gut aussehenden Gesicht mit den ausgeprägten, markanten Zügen.
»Ich wollte Sie zum Essen einladen«, erklärte er. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nur das Salthouse Inn anbieten, denn ich habe immer noch kein Geld und kann Sie schwerlich einladen, um Sie anschließend zu bitten, die Rechnung zu begleichen. Aber im Hotel kann ich es anschreiben lassen, und da das Frühstück gut war — nun, sagen wir, annehmbar, — nehme ich an, dass auch das Abendessen genießbar sein wird.«
»Was für eine zweifelhafte Einladung«, bemerkte sie.
Er schien darüber nachzudenken. »Meinen Sie das "genießbar"?«
»Ja. "Erlauben Sie mir, Sie zu einem genießbaren, wenn auch alles andere als schmackhaften Dinner einzuladen?" Das ist genau so ein galantes, postviktorianisches Ansinnen, auf das man nur antworten kann: "Es wäre mir beinahe ein Vergnügen."«
Er lachte. »Tut mir leid! Meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie tot wäre, was allerdings zum Glück nicht der Fall ist. Also lassen Sie es mich so sagen: Ich habe mir die Speisekarte von heute Abend angeschaut, und sie scheint… wenn vielleicht nicht gerade sagenhaft, so doch immerhin… ganz schick.«