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Daidre wandte sich zu Thomas Lynley um, um seine Reaktion auszuloten. Solch ein Bauwerk an einem so entlegenen Ort? Seine Augen hatten sich geweitet, und ein Lächeln lauerte in seinen Mundwinkeln. Sein Ausdruck schien zu fragen: Was ist das hier?

Sie beantwortete seine ungestellte Frage und hob die Stimme, um den Wind zu übertönen, der immer noch an ihnen zerrte. »Ist sie nicht wunderbar, Thomas? Sie heißt "Hedras Hütte". Den Aufzeichnungen von Reverend Walcombe zufolge steht sie hier schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts.«

»Hat er sie erbaut?«

»Walcombe? Nein, nein. Er war kein Baumeister, sondern Chronist. Ein ziemlich guter, wenn Sie mich fragen. Er hat niedergeschrieben, was sich in und um Alsperyl zugetragen hat. Ich habe das Buch irgendwann einmal zufällig in der Bibliothek von Casvelyn gefunden. Er war… ich weiß nicht genau, vielleicht vierzig Jahre lang Vikar in St. Morwenna. Er hat versucht, die gequälte Seele zu erretten, die diese Hütte gebaut hat.«

»Ah. Das war dann wohl besagte Hedra?«

»Genau die. Sie war verwitwet. Ihr Mann — der in den Gewässern vor Polcare Cove fischte — geriet in einen Sturm und ertrank. Er ließ sie allein mit einem kleinen Sohn zurück. Wenn man Reverend Walcombe glauben will und er neigte nicht dazu, seine Berichte auszuschmücken, verschwand der Junge eines Tages. Vermutlich ist er zu nahe an den Rand einer Klippe geraten, die zu brüchig war, um sein Gewicht zu tragen. Statt den Verlust von Mann und Sohn innerhalb von sechs Monaten zu akzeptieren, beschloss die arme Hedra zu glauben, ein Selchie hätte den Jungen geholt. Sie redete sich ein, der Kleine wäre zum Wasser hinuntergegangen — Gott allein weiß, wie er das aus dieser Höhe geschafft haben sollte, und dort hätte die Robbenfrau auf ihn gewartet und ihn ins Wasser gelockt, um ihn dem Rest der…« Sie runzelte die Stirn. »Mist. Ich habe vergessen, wie man eine Robbengruppe nennt. Herde kann nicht stimmen. Schule? Aber das sagt man bei Delfinen. Na ja, spielt ja im Moment keine Rolle. Das war es jedenfalls, was passiert ist. Hedra hat diese Hütte gebaut, um auf seine Rückkehr zu warten, und das tat sie für den Rest ihres Lebens. Eine ziemlich ergreifende Geschichte, was?«

»Ist sie wahr?«

»Wenn man diesem Walcombe glauben kann. Kommen Sie mit rein! Es gibt noch mehr zu entdecken. Wir sollten zusehen, dass wir aus dem Wind herauskommen.«

Die obere und untere Türhälfte wurden von rauen Holzriegeln verschlossen gehalten, die durch ebenso raue Holzgriffe gesteckt waren und auf Haken ruhten. Während Daidre sie zurückschob und die Türen öffnete, sagte sie über die Schulter: »Hedra wusste genau, was sie tat. Sie hat sich eine ziemlich solide Hütte gebaut, um auf ihren Sohn zu warten. Mit einer Rahmenkonstruktion aus Holz. Drinnen gibt es eine umlaufende Bank, das Dach liegt auf stabilen Balken, und der Boden ist aus Schiefer. Es ist, als hätte sie gewusst, dass ihr eine lange Wartezeit bevorstand.«

Sie ging voraus, doch dann hielt sie abrupt inne. Sie hörte, wie er hinter ihr durch die niedrige Tür kam. »O verdammt«, rief sie verärgert, und er sagte: »Was für ein Jammer.«

Die Wand genau vor ihnen war verunstaltet worden, und nach den frischen Kratzern und Einschnitten im Holz der kleinen Hütte zu urteilen, war es erst kürzlich geschehen. Die Überreste eines eingeritzten Herzens — welches zweifellos die Initialen eines Liebespaares enthalten hatte — bildeten jetzt einen gerundeten Rahmen für eine Reihe tiefer Kerben, die beinah wie eine Fleischwunde aussahen. Von den Initialen war nichts mehr zu sehen.

»Nun ja«, sagte Daidre und bemühte sich, gelassen zu klingen. »Es ist ja nicht so, als wären die Wände nicht vorher schon verunstaltet worden. Wenigstens sind es keine Graffiti. Aber trotzdem fragt man sich… Warum tut jemand so was?«

Thomas nahm den Rest der Hütte mit ihren Schnitzereien aus mehr als zweihundert Jahren in Augenschein: Initialen, Daten, noch mehr Herzen, dann und wann ein Name. »Wo ich zur Schule gegangen bin«, sagte er nachdenklich, »gibt es eine Mauer. Sie ist nicht weit vom Eingang entfernt, sodass kein Besucher sie übersehen kann. Schüler haben dort ihre Initialen eingeritzt seit… ich weiß nicht… ich nehme an, seit der Regentschaft von Henry VI. Wenn ich dorthin zu Besuch fahre — das tue ich hin und wieder, das tut wohl jeder, dann suche ich nach meinen. Sie sind immer noch da. Irgendwie sagen sie mir, dass ich real bin. Ich existierte damals, ich existiere immer noch. Aber wenn ich all die anderen ansehe… und es sind Hunderte, wahrscheinlich Tausende… muss ich immer daran denken, wie flüchtig das Leben ist. Hier ist es dasselbe, finden Sie nicht?«

»Ich schätze schon.« Sie fuhr mit den Fingern über einige der älteren Schnitzereien: ein keltisches Kreuz, der Name Daniel, B.J. + S.R. »Ich komme gerne hierher, um nachzudenken«, gestand sie. »Manchmal frage ich mich, wer all diese Menschen waren, die sich so vertrauensvoll zusammengeschlossen haben. Und war ihre Liebe von Dauer? Das frage ich mich auch.«

Lynley berührte das entstellte Herz. »Nichts ist von Dauer«, sagte er. »Das ist unser Fluch.«

9

Bea Hannaford sah sich in Santo Kernes Zimmer um. Zum ersten Mal seit ihrem Aufeinandertreffen war sie froh, dass es Constable McNulty war, der als ihr Handlanger herhalten musste, denn die Wände in Santos Zimmer waren mit Surfpostern tapeziert, und Bea war zu der Überzeugung gelangt, was McNulty nicht über das Surfen wusste, über die Schauplätze der Fotos und die Surfer darauf, war auch nicht wissenswert. Sie konnte zwar nicht sagen, ob seine Expertise sich auch nur im Geringsten als relevant erweisen würde. Aber sie war erleichtert, dass er sich wenigstens mit irgendetwas auskannte.

»Jaws«, flüsterte er ehrfürchtig und betrachtete mit staunenden Augen einen Wasserberg, über den ein höchstens daumengroßer Irrer hinwegrauschte. »Verdammt noch mal, sehen Sie sich den Typen an! Das ist Hamilton. Vor Maui. Der Kerl ist wahnsinnig! Es gibt nichts, was er nicht täte. Gott, sieht das nicht aus wie ein Tsunami?« Er pfiff anerkennend durch die Zähne und schüttelte den Kopf.

Ben Kerne war mit ihnen nach oben gekommen, hatte aber an der Schwelle innegehalten. Dellen war unten in der Lounge geblieben. Bea hatte messerscharf erkannt, dass Kerne sie nicht hatte allein lassen wollen. Hin- und hergerissen war er zwischen der Polizei und seiner Frau. Doch er konnte nicht gleichzeitig Beas Anliegen nachkommen und Dellen im Auge behalten. Letztlich hatte er keine Wahl gehabt. Die Beamten hätten auf der Suche nach Santos Zimmer das gesamte Hotel durchstreift, während er seine Frau beaufsichtigte. Also hatte er sie selber hingeführt, aber es war unschwer zu sehen, dass er mit seinen Gedanken woanders war.

»Ich wusste gar nicht, dass Santo gesurft hat«, sagte Bea über die Schulter zu Ben Kerne, der noch immer an der Tür stand.

Er antwortete: »Er hat angefangen zu surfen, als wir nach Casvelyn kamen.«

»Ist seine Ausrüstung hier? Surfbrett, Neoprenanzug und was man sonst noch braucht…«

»Kapuze«, murmelte McNulty, »Handschuhe, Stiefel, Ersatzfinnen…«

»Das reicht, Constable«, fuhr Bea ihm über den Mund. »Mr. Kerne wird sicher wissen, was ich meine.«

»Nein. Er hat seine Ausrüstung an einem anderen Ort verwahrt«, erwiderte Ben Kerne.

»Ach, wirklich? Warum?«, fragte Bea. »Nicht gerade praktisch, oder?«

Ben betrachtete die Poster, während er antwortete: »Ich nehme an, er wollte sie nicht hier aufbewahren.«

»Warum nicht?«, wiederholte sie.

»Er hat wohl befürchtet… ich könnte irgendetwas damit anstellen.«

»Ah. Constable?« Zufrieden nahm Bea zur Kenntnis, dass Mick McNulty ihren Wink auf Anhieb verstanden hatte und sich schleunigst wieder seinem Notizbuch widmete, auch wenn Ben Kerne auf Nachfrage nicht sagen konnte, wo Santo seine Ausrüstung denn nun verwahrt hatte. Bea hakte nach: »Wieso sollte Santo glauben, Sie würden irgendetwas damit… anstellen, Mr. Kerne? Oder meinten Sie mit "anstellen"  manipulieren?« Und sie dachte: Erst die Surfausrüstung, dann die Kletterausrüstung?