»Er wusste, dass ich es nicht gern sah, wenn er surfte.«
»Wirklich nicht? Verglichen mit dem Klettern scheint es mir aber der harmlosere Sport zu sein.«
»Kein Sport ist wirklich harmlos, Inspector. Aber das war nicht der Grund.« Kerne schien nach Worten zu ringen, um zu erklären, was er meinte, und trat schließlich zu ihnen in den Raum. Versteinert starrte er auf die Poster.
»Surfen Sie selbst, Mr. Kerne?«, fragte Bea.
»Ich hätte mit Sicherheit nichts dagegen gehabt, dass Santo surft, wenn ich es selbst täte, oder?«
»Ich weiß es nicht. Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie die eine Sportart billigen, nicht aber die andere.«
»Es geht um die Typen, verstehen Sie?« Kerne warf Constable McNulckty einen entschuldigenden Blick zu. »Ich wollte nicht, dass er sich mit anderen Surfern herumtreibt, weil für so viele von ihnen der Sport das einzig Wichtige auf der Welt ist. Ich wollte nicht, dass er so wird: dieses ewige Herumlungern, immer nur auf die nächstbeste Gelegenheit zum Surfen warten — ein Leben, das nur von Isobarenkarten und Gezeitentabellen definiert wird. Ewig fahren sie nur die Küste auf und ab, um die perfekte Welle zu erwischen. Und wenn sie nicht surfen, dann reden sie darüber oder kiffen, und anschließend stehen sie in ihren Neoprenanzügen zusammen und reden immer noch darüber. Es gibt Jungs und inzwischen sogar ein paar Mädchen, muss ich zugeben, deren ganzes Leben sich einzig und allein darum dreht, Wellen zu reiten und rund um den Globus zu ziehen, um immer neue Wellen auszumachen. Ich wollte nicht, dass Santo so wird. Würden Sie das für Ihren Sohn oder Ihre Tochter wollen?«
»Und ein Leben, das sich ums Klettern dreht…«
»Das tat es ja gar nicht! Und wenigstens ist das ein Sport, bei dem man auf andere angewiesen ist. Es ist nicht so einsam, wie das Surfen es sein kann und meistens ja auch wirklich ist. Ein Surfer allein auf den Wellen: Das sieht man immerzu. Ich wollte nicht, dass er allein dort draußen ist. Ich wollte, dass er mit anderen zusammen ist. Für den Fall, dass ihm etwas zustößt…«
Sein Blick schweifte wieder zu den Postern, und was sie zeigten, war selbst für Beas ungeschultes Auge deutlich: Gefahr, allesbeherrschende und allgewaltige Gefahr, verkörpert durch unvorstellbare Wassermassen. Da konnte alles passieren von Knochenbrüchen bis zum sicheren Tod durch Ertrinken. Sie fragte sich, wie viele wohl jedes Jahr ums Leben kamen, während sie einen beinahe vertikalen Abhang hinabrasten, der sich im Gegensatz zu festem Boden mit berechenbaren Strukturen von einer Sekunde zur nächsten radikal verändern und die Unachtsamen unter sich begraben konnte.
»Und doch war Santo allein beim Klettern, als er abgestürzt ist«, fuhr sie fort. »So wie er es vielleicht auch gewesen wäre, wäre er zum Surfen gegangen. Davon abgesehen, sind Surfer doch gar nicht immer allein draußen, oder?«
»Auf der Welle schon. Der Surfer und die Welle, allein. Selbst wenn noch andere auf dem Wasser sind. Aber um die geht es in solchen Momenten nicht.«
»Und beim Klettern?«
»Von seinem Kletterpartner ist man abhängig. Der eine gewährleistet die Sicherheit des anderen.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Ist es nicht das, was jeder Vater sich wünscht? Eine gewisse Sicherheit für sein Kind?«
»Und wie hat Santo auf Ihre Haltung zum Surfen reagiert?«
»Wie meinen Sie das?«
»Was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen? Gab es Streit? Strafen? Neigen Sie zu Gewalttätigkeit, Mr. Kerne?«
Er wandte sich ihr zu, doch jetzt stand er mit dem Rücken zum Fenster, sodass sie sein Gesicht nicht länger lesen konnte. »Was für eine verdammte Frage soll das sein?«, verlangte er zu wissen.
»Eine Frage, die eine Antwort erfordert. Irgendjemand hat Santo erst kürzlich ein blaues Auge verpasst. Was wissen Sie darüber?«
Er ließ die Schultern hängen. Dann drückte er sich vom Fensterbrett ab und trat weg vom Licht auf die Zimmertür zu, zu deren Anschlagseite ein Computer mit Drucker auf einer schlichten Spanplatte stand, die quer über zwei Holzböcken liegend einen primitiven Schreibtisch bildete. Ein Papierstapel lag mit der Schrift nach unten darauf. Ben Kerne griff danach, doch Bea hielt ihn zurück, noch ehe seine Finger die Papiere berühren konnten. Sie wiederholte ihre Frage.
»Er wollte es mir nicht sagen«, antwortete Kerne. »Natürlich habe ich gesehen, dass ihn jemand geschlagen hatte. Es war ein böser Fausthieb. Aber der Junge hat sich geweigert, die Sache zu erklären, sodass ich nicht umhinkam zu denken…« Er schüttelte den Kopf. Er schien mehr zu wissen, war aber offenbar unwillig, sie daran teilhaben zu lassen.
»Wenn Sie irgendetwas wissen… Wenn Sie einen Verdacht haben…«, sagte Bea.
»Nein. Hab ich nicht. Es ist nur… Die Frauen mochten Santo einfach, und Santo mochte die Frauen. Er machte keine Unterschiede.«
»In Bezug worauf?«
»Zwischen verfügbar und nicht verfügbar. Zwischen gebunden und ungebunden. Santo war… Er war der reine, fleischgewordene Paarungsinstinkt. Vielleicht hat ihn ein wütender Vater niedergeschlagen. Oder ein eifersüchtiger Freund. Er wollte es mir nicht sagen. Aber er war verrückt nach Mädchen und die Mädchen nach ihm. Und um die Wahrheit zu sagen: Er ließ sich leicht dahin bringen, wo eine entschlossene junge Frau ihn haben wollte. Er war… Ich fürchte, er war immer schon so.«
»Gab es jemand Bestimmten?«
»Die Letzte war eine junge Frau namens Madlyn Angarrack. Sie waren über ein Jahr lang zusammen.«
»Und ist sie zufällig auch eine Surferin?«, wollte Bea wissen.
»Eine hervorragende sogar, wenn man Santo Glauben schenkt. Angehende Landesmeisterin. Er war sehr beeindruckt von ihr.«
»Und sie von ihm?«
»Es war keine einseitige Sache.«
»Und was haben Sie dabei empfunden — zusehen zu müssen, wie Ihr Sohn mit einer Surferin anbandelte?«
Ben Kerne antwortete ruhig: »Santo bandelte ständig mit irgendwem an, Inspector. Ich wusste, es würde vorübergehen. Wie ich schon sagte: Er liebte die Frauen. Er war noch nicht bereit, sich zu binden. Weder an Madlyn noch an sonst irgendjemanden. Unter keinen Umständen.«
Das war eine interessante Formulierung, fand Bea. Sie fragte: »Aber Sie wollten gerne, dass er sich bindet?«
»Wie jeder Vater wollte ich, dass er anständig bleibt und sich nicht in Schwierigkeiten bringt.«
»Das sind eher bescheidene Erwartungen. Hatten Sie keine größeren Pläne für Ihren Sohn?«
Ben Kerne antwortete nicht. Bea hatte das untrügliche Gefühl, dass er ihr etwas verheimlichte, und ihre Erfahrung sagte, wenn jemand das während einer Mordermittlung tat, dann für gewöhnlich aus Selbstschutz.
»Haben Sie Santo je geschlagen, Mr. Kerne?«, fragte sie.
Der Blick, den er auf sie gerichtet hielt, blieb stetig. »Diese Frage habe ich Ihnen bereits beantwortet.«
Sie ließ zu, dass das Schweigen sich in die Länge zog, aber dieses Mal trug es keine Früchte. Es blieb ihr nichts anderes übrig als fortzufahren, und das tat sie, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf Santos Computer richtete. Den werde sie mitnehmen müssen, erklärte sie. Constable McNulty werde ihn abbauen und die einzelnen Teile zum Wagen hinuntertragen. Dann nahm sie sich den Papierstapel vor, den Kerne hatte zur Hand nehmen wollen. Sie drehte die Blätter um und legte sie behutsam nebeneinander. Jede Menge Skizzen, stellte sie fest, die alle in der einen oder anderen Weise den Namen "Adventures Unlimited" enthielten. Ein Beispiel zeigte die beiden Wörter zu einer Welle geformt. Im nächsten bildete der Schriftzug ein rundes Logo, in dessen Zentrum das King-George-Hotel stand. Auf dem dritten war er das Fundament, auf dem angedeutete männliche und weibliche Silhouetten alle möglichen sportlichen Heldentaten vollbrachten. Auf wieder einer anderen Skizze bildeten die Wörter ein Klettergerät.