»Er… O mein Gott.«
Bea hob den Kopf und sah Kernes erschütterten Gesichtsausdruck. »Was ist denn?«, fragte sie.
»Er hat T-Shirt-Logos entworfen. Auf seinem Computer. Er hat… Anscheinend hat er an einer Marketingidee für unser Unternehmen gearbeitet. Ich hatte ihn nicht darum gebeten. Gott, Santo…«
Letzteres klang beinahe wie eine Entschuldigung. Bea fand, dies sei ein guter Zeitpunkt, um ihn erneut nach Santos Kletterausrüstung zu fragen. Kerne erklärte, sie sei samt und sonders verschwunden, jedes einzelne Grigri, jeder Klemmkeil, jedes Seil — einfach alles.
»Hätte er all das für seine Kletterpartie gebraucht? Die komplette Ausrüstung?«
Kerne verneinte. Entweder habe Santo beschlossen, die Ausrüstung ohne das Wissen seines Vaters andernorts aufzubewahren, oder aus unerfindlichen Gründen alles mitgenommen, als er am Vortag zu seiner tödlichen Klettertour aufgebrochen war.
»Aber warum hätte er das tun sollen?«, fragte Bea.
»Wir hatten uns gestritten. Vielleicht als Trotzreaktion darauf. Um es mir zu zeigen…«
»Eine Trotzreaktion, die zu seinem Tod geführt hat? Vielleicht zu aufgewühlt, um seine Ausrüstung mit der nötigen Sorgfalt zu überprüfen? War er der Typ für Hauruck-Aktionen?«
»Impulsiv, meinen Sie? Ob er impulsiv genug war, klettern zu gehen, ohne seine Ausrüstung zu checken? Ja«, räumte Kerne ein. »Er war genau der Typ, um so etwas zu tun.«
Der letzte Heizkörper! Gepriesen sei Gott oder wen immer man pries, wenn eine Preisung angesagt war. Nicht der letzte Heizkörper im ganzen Hotel, aber zumindest der letzte, den er heute anstreichen musste. Wenn er eine halbe Stunde dafür veranschlagte, die Pinsel zu reinigen und die Lackdosen zu verschließen — und nach all den Jahren, die er für seinen Vater gearbeitet hatte, hatte Cadan reichlich Praxis darin, Tätigkeiten in die nötige Länge zu ziehen, — dann wäre es an der Zeit, Feierabend zu machen. Ein Glück! Sein unterer Rücken schmerzte, und sein Kopf hämmerte schon wieder von den Farbdünsten. Ganz offensichtlich war er für diese Art Arbeit nicht geschaffen.
Cadan hockte sich auf den Boden, lehnte sich ein wenig zurück und bewunderte sein Werk. Wie blöd konnte man sein, den Teppichboden verlegen zu lassen, bevor die Heizkörper angestrichen worden waren, fand Cadan. Aber er hatte es geschafft, auch die letzten Tropfen mit emsigem Rubbeln zu entfernen, und er nahm an, die Spritzerchen, die jetzt noch da waren, würden die Vorhänge verdecken. Außerdem waren es die einzigen ernsthaften Spritzer, die er heute gemacht hatte, und das allein war schon eine reife Leistung.
»Wir hauen ab, Pooh«, verkündete er.
Der Papagei lotete sein Gleichgewicht auf Cadans Schulter aus und antwortete mit einem Krächzen, gefolgt von: »Schießt Bolzen auf den Kühlschrank! Ruft die Bullen! Ruft die Bullen!« einer weiteren Kostprobe seines seltsamen Zitatenschatzes.
Die Tür öffnete sich, gerade als Pooh mit den Flügeln schlug, was üblicherweise einem Flug zum Fußboden oder aber der Ausführung einer wesentlich unwillkommeneren Körperfunktion auf Cadans Schulter vorausging. »Wehe, Kumpel«, warnte Cadan, und gleichzeitig fragte eine weibliche Stimme: »Entschuldigung, aber wer sind Sie? Was tun Sie hier?«
Die Sprecherin entpuppte sich als eine Frau in Schwarz. Cadan ahnte, dass es sich um Santo Kernes Mutter Dellen handeln müsse. Ungeschickt rappelte er sich auf, und schon gab Pooh ein weiteres Sätzchen zum Besten: »Polly will vögeln! Polly will vögeln!« Er bewies damit nicht zum ersten Mal, wie tief er von einem Moment zum anderen sinken konnte.
»Was ist das denn?«, fragte Dellen Kerne, und es war offensichtlich der Vogel, den sie meinte.
»Ein Papagei.«
Ihr Ausdruck verriet Verärgerung. »Das sehe ich selbst«, erwiderte sie. »Ich bin weder blöd noch blind. Welche Art Papagei, was tut er hier, und davon ganz abgesehen, was tun Sie hier?«
»Ein mexikanischer Papagei.« Cadan spürte, wie sein Gesicht heiß wurde, aber er wusste, die Frau würde sein Unbehagen nicht bemerken, denn sein dunkler Teint neigte nicht dazu zu erröten, wenn ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Sein Name ist Pooh.«
»Wie in Pooh der Bär?«
»Nein, wie in: "Puh, du hast schon wieder auf den Wohnzimmerteppich gekackt!"«
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Warum kenne ich Sie nicht? Warum habe ich Sie hier bisher noch nie gesehen?«
Cadan stellte sich vor. »Ben… Mr. Kerne hat mich erst gestern eingestellt. Wahrscheinlich hat er vergessen, Ihnen das zu erzählen, wegen…« Er begriff zu spät, wohin seine Worte ihn führten, um es noch verhindern zu können. Er presste die Lippen zusammen und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Er hatte den ganzen Tag nicht nur damit zugebracht, Heizkörper anzupinseln und davon zu träumen, was sich aus der Minigolfanlage machen ließ, sondern ebenso damit, eine Begegnung wie diese zu vermeiden: Auge in Auge mit einem von Santo Kernes Eltern und das in einem Moment, da ihr Verlust noch so allgegenwärtig war, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als in irgendeiner Weise sein Beileid zu bekunden. Er sagte: »Tut mir leid, die Sache mit Santo.«
Sie wirkte gelassen. »Natürlich tut es Ihnen leid.«
Was immer das heißen sollte. Cadan trat von einem Fuß auf den anderen. Er hielt immer noch einen Pinsel in der Hand, und plötzlich kam er sich idiotisch vor und fragte sich, was er damit tun sollte. Oder mit den Farbdosen. Sie waren ihm gebracht worden, aber es hatte ihm niemand gesagt, wo er sie am Ende des Arbeitstages hinräumen sollte, und er hatte vergessen, danach zu fragen.
»Haben Sie ihn gekannt?«, fragte Dellen unvermittelt. »Haben Sie Santo gekannt?«
»Ein bisschen. Ja.«
»Und was haben Sie von ihm gehalten?«
Jetzt stand er auf dünnem Eis. Die einzige Antwort, die Cadan einfiel, lautete: »Er hat bei meinem Dad ein Surfboard gekauft.« Er erwähnte Madlyn nicht, wollte Madlyn nicht erwähnen, wollte nicht darüber nachdenken, warum er Madlyn nicht erwähnen wollte.
»Ich verstehe. Ja. Aber das ist nicht die Antwort auf meine Frage, oder?« Dellen trat tiefer in den Raum hinein. Aus irgendeinem Grund ging sie an den Einbauschrank, öffnete ihn und schaute hinein — sprach gleichsam in den Schrank hinein, als sie sagte: »Santo war mir sehr ähnlich. Das können Sie nicht wissen, wenn Sie ihn nicht kannten. Und Sie kannten ihn nicht, oder? Nicht richtig.«
»Wie gesagt. Flüchtig. Wir sind uns hin und wieder über den Weg gelaufen. Später nicht mehr so oft, aber als er mit dem Surfen anfing, häufiger.«
»Weil Sie selber surfen?«
»Ich? Nein. Na ja, ich meine, ich hab's natürlich mal versucht. Aber es ist nicht so, als wär's die einzige Sache… Ich meine, ich habe auch noch andere Interessen.«
Sie kehrte dem Schrank den Rücken. »Wirklich? Und zwar? Sport, nehme ich an. Sie sehen sehr fit aus. Und Frauen. Für junge Männer in Ihrem Alter gehören Frauen für gewöhnlich zu den Hauptinteressen. Sind Sie genauso wie andere junge Männer?« Sie runzelte die Stirn. »Können wir das Fenster öffnen? Der Farbgeruch…«
Cadan wollte schon sagen, es sei doch ihr Hotel, und sie könne schließlich tun und lassen, was sie wollte, doch stattdessen legte er behutsam den Pinsel ab, trat ans Fenster und zwang es mit einiger Kraftanwendung auf. Es musste neu justiert oder geölt werden oder was immer man tat, um einem Fenster eine Verjüngungskur zu verpassen.
»Danke«, sagte sie. »Ich würde gerne eine Zigarette rauchen. Rauchen Sie? Nein? Das überrascht mich. Sie sehen aus wie ein Raucher.«
Cadan wusste, sie erwartete von ihm, dass er jetzt fragte, wie ein Raucher denn wohl aussehe. Wäre sie jünger gewesen, zwischen zwanzig und dreißig vielleicht, hätte er es getan, weil er ahnte, dass eine solche Frage mit einem gewissen metaphorischen Potenzial durchaus zu interessanten Antworten führen mochte, aus welchen sich wiederum interessante Entwicklungen ergeben konnten. Doch er hielt lieber den Mund, und als sie fragte: »Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?«, schüttelte er nur stumm den Kopf. Er hoffte, sie erwartete nicht, dass er ihr die Zigarette anzündete, denn sie sah genau wie die Sorte Frau aus, um die Männer üblicherweise eilfertig herumsprangen. Aber weder hatte er Streichhölzer noch ein Feuerzeug bei sich. Ihr Eindruck hatte sie indes nicht getäuscht. Er war in der Tat Raucher, hatte aber seinen Konsum in letzter Zeit ein wenig eingeschränkt, denn er hatte sich einzureden versucht, es sei der Tabak, nicht der Alkohol, der seinen Problemen zugrunde lag.