Sie zupfte ein Streichholzbriefchen aus der Zellophanfolie, die ihre Zigarettenschachtel umschloss, steckte sich eine Zigarette an, zog daran und ließ langsam den Rauch durch die Nase entweichen.
»Giftgas, Giftgas«, krähte Pooh.
Cadan zuckte zusammen. »Tut mir leid. Das hat er ungefähr eine Million Mal von meiner Schwester gehört. Er imitiert sie. Er imitiert jeden. Tja, und sie hasst es, wenn jemand in ihrem Beisein raucht.« Und dann noch einmaclass="underline" »Tut mir leid«, denn sie sollte nicht glauben, er wollte sie kritisieren.
»Sie sind nervös«, bemerkte Dellen. »Das liegt an mir. Und das mit dem Papagei ist schon in Ordnung. Er weiß ja nicht, was er sagt.«
»Na ja. Stimmt schon. Obwohl… Manchmal könnte ich schwören, er weiß es ganz genau.«
»Wie die Bemerkung über das Vögeln?«
Er blinzelte. »Was?«
»"Polly will vögeln"«, rief sie ihm in Erinnerung. »Das war das Erste, was er gesagt hat, als ich ins Zimmer gekommen bin. Ich will übrigens nicht. Vögeln, meine ich. Aber ich wüsste zu gerne, warum er das gesagt hat. Ich nehme an, Sie bedienen sich des Vogels, um Frauen aufzureißen. Haben Sie ihn deshalb mitgebracht?«
»Ich nehme ihn fast überall mit hin.«
»Das ist bestimmt nicht immer praktisch.«
»Wir kommen schon klar.«
»Tatsächlich?« Sie betrachtete den Vogel, doch Cadan hatte das Gefühl, dass es nicht wirklich Pooh war, den sie ansah. Er hätte nicht sagen können, was sie sah, aber ihre nächsten Worte verrieten ihm zumindest die vage Richtung ihrer Gedanken. »Santo und ich standen einander sehr nahe. Stehen Sie Ihrer Mutter nahe?«
»Nein.« Er fügte wohlweislich nicht hinzu, dass es nahezu unmöglich war, Wenna Rice Angarrack McCloud Jackson Smythe alias "das Miststück" nahezustehen. Sie war niemals lange genug am selben Ort geblieben, um Nähe auch nur ansatzweise zuzulassen.
»Santo und ich standen einander sehr nahe«, wiederholte Dellen nun. »Wir waren uns sehr ähnlich. Sinnenmenschen. Wissen Sie, was das ist?« Sie gab ihm keine Gelegenheit zu antworten nicht dass er ihr eine Definition hätte geben können und fuhr fort: »Wir leben für Sinneserfahrungen. Für das, was wir sehen und hören und riechen können. Was wir schmecken können. Was wir berühren können. Und für das, was uns berühren kann. Wir erfahren das Leben in all seiner Vielfalt, in seinem Reichtum ohne Schuldgefühle, ohne Angst. So war Santo. Ich habe ihm beigebracht, so zu sein.«
»Okay…« Cadan hätte allerhand darum gegeben, das Zimmer zu verlassen, aber ihm fiel einfach nicht ein, wie er seinen Abgang bewerkstelligen sollte, ohne dass es nach Flucht aussah. Er redete sich ein, dass es doch eigentlich gar nicht notwendig sei, Fersengeld zu geben und zu verschwinden, und doch hatte er das beinah instinkthafte Gefühl, dass Gefahr lauerte.
»Was sind Sie denn für einer?«, fragte Dellen, und dann: »Kann ich Ihren Vogel mal anfassen, oder beißt er?«
»Er hat es gern, wenn man ihn am Kopf krault. Wo die Ohren wären, wenn Vögel Ohren hätten. Ich meine, Ohren wie unsere. Ohrmuscheln. Hören können sie natürlich.«
»Etwa so?« Sie kam näher. Er konnte ihren Duft riechen. Moschus, witterte er. Sie streichelte den Vogel mit dem leuchtend rot lackierten Nagel des rechten Zeigefingers. Pooh ließ sich ihre Liebkosung gefallen, wie er es immer tat. Er schnurrte sogar wie eine Katze — auch so ein Laut, den er von einem früheren Besitzer gelernt hatte. Dellen lächelte den Vogel an. Zu Cadan sagte sie: »Sie haben mir nicht geantwortet. Was für ein Mensch sind Sie? Ein Sinnenmensch? Der emotionale Typ? Ein Intellektueller?«
»Wohl kaum«, erwiderte er. »Wohl kaum ein Intellektueller, meine ich.«
»Ah. Also der emotionale Typ? Von Gefühlen beherrscht? Empfindsam?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann müssen Sie ein Sinnenmensch sein. So wie ich. Wie Santo. Das habe ich mir schon gedacht. Man kann es Ihnen irgendwie ansehen. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Freundin das sehr zu schätzen weiß. Falls Sie eine haben. Haben Sie?«
»Im Moment nicht.«
»Schade. Sie sind durchaus attraktiv. Wie kommen Sie auf Ihre Kosten, was Sex angeht?«
Mehr denn je verspürte Cadan den Drang zu fliehen, dabei tat sie gar nichts, außer den Vogel zu kraulen und mit ihm — Cadan — zu sprechen. Trotzdem: Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit dieser Frau.
Und dann ging ihm plötzlich auf, was es war: Ihr Sohn war tot. Nicht nur tot, sondern ermordet worden. Er war hinüber, um die Ecke gebracht, abgemurkst, was auch immer. Wenn der eigene Sohn starb oder die Tochter oder der Ehemann, sollte diese Frau sich nicht die Kleider zerreißen? Sich die Haare raufen? Eimerweise Tränen vergießen?
»… denn Sie haben doch bestimmt Sex. Ein junger, viriler Mann wie Sie! Sie können mir doch nicht weismachen, dass Sie wie ein Mönch leben.«
»Ich warte auf den Sommer«, erklärte er.
Überrascht zog sie ihre Hand zurück. Ihre Finger verharrten keine zwei Zentimeter vom grünen Kopf des Vogels in der Luft. Pooh machte einen Schritt zur Seite, um wieder in ihre Reichweite zu gelangen.
»Auf den Sommer?«, fragte Dellen.
»Dann ist die Stadt voller Mädchen, die hier Ferien machen.«
»Ah. Sie bevorzugen also die Kurzzeitbeziehung. Sex ohne Bindungen.«
»Na ja«, räumte er ein. »Kann man so sagen. So ist's mir am liebsten.«
»Das kann ich mir vorstellen. Sie erfüllen ihre Bedürfnisse, die Mädchen erfüllen Ihre Bedürfnisse, und alle sind glücklich. Keine Erwartungen. Ich weiß genau, was Sie meinen. Obwohl Sie das vermutlich überrascht, nehme ich an. Eine Frau in meinem Alter. Verheiratet und Mutter. Die weiß, was das bedeutet.«
Er lächelte unsicher. Es war ein unaufrichtiges Lächeln, eine pure Höflichkeitsgeste, die ihm ersparte, auf das eingehen zu müssen, was sie gesagt hatte. Er blickte zur Tür. »Tja«, sagte er und bemühte sich, dabei entschlossen zu klingen, ganz so als meinte er: Das war's dann wohl. War nett, mit Ihnen zu reden.
»Warum sind wir uns eigentlich noch nie begegnet?«, fragte sie.
»Ich habe gerade erst angefangen, hier…«
»Das weiß ich doch. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum wir uns bisher nie über den Weg gelaufen sind. Sie sind doch ungefähr in Santos Alter…«
»Ich bin vier Jahre älter. Er ist eher im selben Alter…«
»… und Sie sind ihm so ähnlich! Darum kann ich mir gar nicht vorstellen, wieso Sie nie mit ihm hergekommen sind.«
»… wie meine Schwester, Madlyn«, beendete er den Satz. »Wahrscheinlich kennen Sie Madlyn. Meine Schwester. Sie und Santo waren… Na ja, sie waren… was immer Sie es nennen wollen.«
»Was?«, fragte Dellen verwirrt. »Von wem sprechen Sie?«
»Von Madlyn. Madlyn Angarrack. Sie… Santo und sie… waren ungefähr, ich weiß nicht, achtzehn Monate zusammen. Oder zwei Jahre. So was in der Richtung. Sie ist meine Schwester. Madlyn ist meine Schwester.«
Dellen sah ihn mit großen Augen an. Dann stierte sie an ihm vorbei, den Blick ins Leere gerichtet. Ihre Stimme klang vollkommen anders, als sie sagte: »Wie eigenartig. Madlyn, sagten Sie?«
»Genau. Madlyn Angarrack.«
»Und sie und Santo waren… was genau?«